Magyria 01 - Das Herz des Schattens
Stadt. Noch nicht.
Als Mattim das Flussufer erreicht hatte, blickte er sich zur Burg um. In den meisten Fenstern war Licht aufgeflammt, wahrscheinlich suchten sie ihn bereits. Er wandte sich dem dunklen, mit winzigen Lichtpünktchen gesprenkelten Wasser zu. Über die Brücke würden sie ihn nicht lassen, das brauchte er gar nicht erst zu versuchen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu schwimmen.
Der Donua war an dieser Stelle einige Hundert Meter breit. Es war zu schaffen; er musste nur weit genug von der Brücke entfernt ins Wasser gehen, damit ihn die Wachen nicht bemerkten. Eine Weile schlich Mattim an der Kaimauer entlang, bis er sich entschied, es zu wagen. Er wollte nicht zu nah an den Hafen herankommen, denn bei den Booten war immer jemand anzutreffen.
Rasch streifte der Prinz die Schuhe ab. Eine Weile überlegte er, was er mit seiner Kleidung tun sollte. Der Umhang würde ihn beim Schwimmen behindern, also legte er ihn ab. Hemd und Hose trocken auf die andere Seite zu bringen, war unmöglich, also konnte er sie genauso gut anlassen. Es würde kalt, nass und unbequem sein, aber schließlich war er nicht hier, um zu einem Picknick zu gehen. Wenn er auf die Wölfe traf, würde die nasse Kleidung ihn am allerwenigsten stören.
Die Sprossen in der Mauer waren dafür gedacht, Menschen, die versehentlich ins Wasser gefallen waren, eine Aufstiegsmöglichkeit zu bieten. Selten benutzte jemand sie dafür, um zum Wasser hinunterzuklettern. Mattim hatte nicht damit gerechnet, dass es so kalt sein würde, dass es sich anfühlte wie ein Angriff. Immerhin war das hier sein Fluss, den er behütete, mit dem ihn etwas verband, mit dem er aufgewachsen war. Natürlich war er auch schon darin geschwommen. In einer Zeit, als die Schatten sich noch in anderen
Teilen des Landes austobten, war er sogar recht häufig hier gewesen. Dermaßen kalt hatte er die Fluten jedoch nicht in Erinnerung. Mit eisigem Griff packte das Wasser seine Knöchel und legte sich wie Gamaschen aus Schnee um seine Waden. Ein Zittern durchlief ihn, seine Zähne schlugen aufeinander.
Zögernd stieg Mattim weiter hinunter. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, bei Nacht den Fluss zu durchschwimmen. Hinter ihm lockte die Stadt, er dachte an sein Zimmer, an sein warmes, gemütliches Bett. Die ganze Müdigkeit des Tages war plötzlich wieder da und versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.
In diesem Moment klang das Horn durch die Stille der Nacht, diesmal nicht vom Wald her, sondern aus der Burg, ein Laut, der alle Herzen schneller schlagen ließ. Gefahr! Aufwachen, herhören, Gefahr!
Sie hatten entdeckt, dass er die Burg verlassen hatte. Nun würden sie ganz Akink durchkämmen. Sicher dauerte es nicht lange, bis die ersten Wachen oder vielleicht auch hilfsbereite Anwohner hier am Ufer entlangkamen.
Der Prinz warf sich ins Wasser und schwamm los.
Es waren nur wenige Hundert Meter. Vielleicht drei-, vielleicht vier-. Trotzdem kam es ihm vor, als versuchte er das offene Meer zu durchqueren. Die Strömung war unerwartet stark. Seine Kleidung klebte an ihm, als hätte er sich bleischwere Gewichte in die Taschen gesteckt. Es war so finster, dass er das gegenüberliegende Ufer nicht erkennen konnte, daher schwamm er einfach ins Dunkle hinein, und der schwache Schimmer, den die Lichter aus der Stadt auf die Wellen warfen, trug eher dazu bei, ihn zu verwirren, als ihm bei der Orientierung zu helfen.
Mattim kämpfte gegen den Fluss, gegen die nachtschwere Müdigkeit, die sich in seinen Armen und Beinen breitmachte. Kleine Wellen schwappten ihm ins Gesicht und wollten
mit ihm spielen, mit seinem Leben, seinem Atem, seiner Kraft. Die Strömung trug ihn weiter von der Stelle fort, an der er triumphierend aus dem Wasser hatte steigen wollen, immer weiter weg von Akink und der Brücke. Mattim kämpfte um sein Leben. Und während er kämpfte, während er mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war, verzweifelt versuchte, durch die Dunkelheit hindurch das rettende Land zu erreichen, fühlte er das nach Atem ringende, das hoffende, verzweifelnde, wilde Leben in sich, dieses Leben, das nach festem Boden unter den Füßen schrie, nach Wärme und Ruhe und Rettung. Der Prinz kämpfte, und während er mit dem Fluss rang, war dieses Leben auf einmal das Einzige, was er besaß. Nie zuvor hatte er das so deutlich gespürt. Sein schlagendes Herz war das Wertvollste, was er hatte - und er war im Begriff, es wegzuwerfen! Wer hatte ihm bloß diese Idee
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