Magyria 01 - Das Herz des Schattens
sie gesehen?«, fragte sie ihn. »Ein junges Paar? Sie müssen hier irgendwo reingegangen sein.«
Wortlos zeigte der Alte auf das Haus hinter ihm. Er lächelte zahnlos. Hastig drückte Hanna ihm einen Geldschein in die ausgestreckte Hand und trat an die Haustür. Durch die gläsernen Scheiben konnte sie einen gefliesten Eingangsflur erkennen, mit hoher, gewölbter Decke, und dahinter, im Schein trüber Lampen, einen Innenhof. Neben der Tür waren die Klingelschilder angebracht. Sie überflog eine Reihe ungarischer Namen, leider war nicht bei allen der Vorname angegeben. Ein Kunun war jedenfalls nicht dabei.
Sie drückte die Klinke herunter. Die Tür war zu ihrem großen Erstaunen offen. Hanna hätte selbst nicht sagen können, was stärker war - das Gefühl des Triumphs oder die Befangenheit, die sie auf einmal überkam. Sie ging ein paar Meter zurück und fotografierte die Tür, bevor sie es wagte, unter einem lächelnden Löwenkopf die Schwelle zu überschreiten.
Ihre Schuhe quietschten leise auf dem glatten Boden. Sie warf einen Blick in den Hof. Ungewöhnlich sauber und aufgeräumt war es hier. Ein paar steinerne Löwen fielen ihr ins Auge, ein marmornes Brunnenbecken. Vier, fünf Stockwerke hoch umzäunten dunkelblaue, filigrane Balkongitter den schachtartigen Hof. Dahinter Türen und Fenster. Alles still.
Hanna machte einen Schritt zurück. Nach rechts führte der Flur zu einem Treppenhaus, den Stufen gegenüber befand sich ein Fahrstuhl. Ihr war, als ob sie aus dem Treppenhaus leise Stimmen hörte, ein Kichern. Vorsichtig huschte sie die Stufen hoch, immer den Stimmen nach, die sich nach oben entfernten.
Die steinernen Stufen waren flach und breit. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Schuhe bei jedem Schritt lauter und auffälliger quietschten und knarrten. Sie bemühte sich, noch
leiser aufzutreten, und verlangsamte ihre Verfolgungsjagd auf Zeitlupentempo. Als sie endlich ganz oben ankam, war von Kunun keine Spur mehr zu sehen.
Na toll! Jetzt wusste sie natürlich gar nicht, wo er sein und wie sie ihn wiederfinden könnte. Eine Tür reihte sich an die nächste. Pro Stockwerk waren es bestimmt zehn Wohnungen. Sollte sie überall klingeln? Vielleicht wohnte gar nicht er hier, sondern die Frau. Dann ergab es auch keinen Sinn, nachzuschauen, ob an den Türschildern mehr Vornamen standen als unten an der Straße.
Sie trat ans Balkongeländer und blickte in den Hof hinunter, in dem die Löwen im Licht weiß schimmerten. Da - waren da nicht Stimmen? Ihr schräg gegenüber, zwei Stockwerke unter ihr, standen zwei Personen vor einer der Wohnungstüren. Die Frau lachte hell, dann erklang eine Männerstimme, die unzweifelhaft Kunun gehörte. »Bist du sicher?« Und danach: »Ich werde nachsehen, wenn du meinst.«
Die Frau schlug die Kapuze zurück. Es war Atschorek!
Hanna atmete scharf ein, doch sie hatte keine Zeit, sich zu fragen, was ihre alte Bekannte hier tat. Kunun verschwand aus ihrem Blickfeld, und gleich darauf hörte sie seine Schritte im Treppenhaus - die beiden kamen nach oben!
Erschrocken blickte Hanna sich um. Es gab keine Möglichkeit, sich hier zu verstecken. Sollte sie an einer der Türen klingeln? Hastig drückte sie auf den Fahrstuhlknopf. Wenn die Lifttüren sich schlossen, bevor Kunun oben war, würde er sie nicht sehen. Erleichtert registrierte sie, dass jemand aus einer der anderen Wohnungen trat. Ein junger Mann stellte sich neben sie, um auf den Fahrstuhl zu warten. Sie hob nicht den Blick, denn alle ihre Sinne waren nach hinten gerichtet, wo Kununs Stiefelabsätze auf den Treppenstufen klackten.
Der Aufzug öffnete sich. Der Mann ließ ihr den Vortritt und verdeckte weitestgehend die Sicht auf sie, bevor die
Tür sich wieder schloss - gerade als Kunun oben anlangte. Atemlos vor Erleichterung lehnte sie sich gegen die hintere Fahrstuhlwand. Sie war aus Glas und gab den Blick auf den Innenhof und die Balkone frei. Hanna verfolgte, wie der Fahrstuhl langsam am dritten Stockwerk vorbeiglitt. Gleich kam das zweite …
Der Aufzug ruckte leise und blieb stehen.
Sie erwartete, dass die Türen aufgehen und der junge Mann aussteigen würde, aber weder das eine noch das andere geschah. Die Lifttüren öffneten sich nicht. Jetzt fiel ihr auch auf, dass nur der Knopf für das Erdgeschoss leuchtete. Der junge Mann hatte offenbar gar nicht vor, hier auszusteigen, sicher würde jemand zusteigen. Aber auch das geschah nicht. Es passierte gar nichts. Sie hielten einfach nur.
»Hm«, machte der
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