Magyria 01 - Das Herz des Schattens
hinsehen.« Sie hörte das kleine Lächeln in seiner Stimme. »Versprochen.«
»Und wohin …?«
»Nimm einfach meine Mütze.«
Sie schälte sich aus seiner Umarmung. Inzwischen musste sie so sehr, dass es nahezu gleichgültig war, ob sie sich hier in einem gläsernen Fahrstuhl befand, in dem Licht brannte, und vielleicht eine ganze Schar Vampire irgendwo da hinten im dunklen Hof versammelt war und zuschaute. Sie kramte alle ihre Taschentücher heraus und legte die Mütze dick damit aus. Mattim drehte das Gesicht weg, während sie pinkelte. So bemerkte er auch ihr rotes Gesicht nicht. Ihr war heiß, als sie die nasse Kappe in die Ecke schob.
»Oh Gott, ist mir das peinlich.«
Er sagte nichts, sondern breitete wieder seine Jacke aus, und als gäbe es keinen anderen Ort auf dieser Welt, an dem sie sicher sein konnte, kehrte sie in seine Umarmung zurück. Sie sah auf die Uhr. Es war drei.
Sie war so müde, dass sie tatsächlich einnickte. Irgendwann schrak sie hoch.
»Wie spät ist es?«, fragte er.
»Halb sechs.«
Er nickte.
Mit wackeligen Beinen stand Hanna auf, alles tat ihr weh. Sie war völlig durchgefroren. Es war so kalt, dass der Frost die Scheibe mit einer milchigen Schicht überzogen hatte. Sie streckte sich und bewegte ihre verspannten Schultern. Dann blickte sie auf Mattim herunter, auf sein zerzaustes blondes Haar, und ihr Herz zog sich zusammen.
»Wann geht die Sonne auf?«, fragte sie. »Ungefähr in einer Stunde? Es ist nicht dein Ernst, dass du in einer Stunde sterben wirst, oder?«
Er antwortete nicht.
Sie merkte, dass er sich auf seinen Atem konzentrierte,
dass er betont ruhig ein- und ausatmete, während er sie ansah. Dann wandte er sich ab und krümmte sich in der Ecke zusammen, seine Schultern zuckten. Sie kniete sich neben ihn, streckte die Hände nach ihm aus, zögerte, dann strich sie ihm über den Rücken. »Mattim … Hör endlich mit dem Unsinn auf. Du sollst nicht sterben, hörst du? Beiß mich. Ich werde es überleben. Réka hat es auch überlebt. Mach einfach. Es wird schon nicht so schlimm sein.«
Er zuckte mit den Schultern, als versuche er, ein lästiges Insekt abzuschütteln.
»Nein«, sagte sie. »Ich lass dich nicht in Ruhe. Glaubst du, ich schau mir noch eine ganze Stunde lang an, wie du hier auf den Tod wartest? Hör auf, den Märtyrer zu spielen. Beiß mich. Bringen wir es hinter uns.«
Er hob den Kopf. »Ich werde nicht zu ihnen gehören«, flüsterte er. »Lieber sterbe ich. Ich werde nicht auf die Seite des Bösen übertreten.«
»Mattim.« Immer wieder sagte sie seinen Namen, griff nach seinen Schultern und versuchte, ihn so zu sich zu drehen, dass er sie ansehen musste. »Du bist deswegen doch nicht böse. Ich gebe dir mein Blut freiwillig. Ich tue es von mir aus, also ist es nichts, was du einer hilflosen Person antust. So wehrlos bin ich auch wieder nicht. Auch wenn ich nur ein Mädchen bin.« Sie versuchte zu lachen. »Bitte. Vergiss deine Ehre und dein Akink oder was auch immer. Tu es einfach.«
Sie griff nach seinen Händen, nach seinem Gesicht; er sträubte sich, und daran merkte sie, wie stark er wirklich war und dass sie keine Chance bei einem Kampf gegen ihn gehabt hätte. Endlich gab er den Widerstand auf, und sie sah nun, was er so verzweifelt vor ihr hatte verbergen wollen. Er weinte, sein ganzes Gesicht war tränennass, und seine Augen hatten nun die Farbe von Regenwolken.
»Es ist in Ordnung«, sagte sie, »Mattim, bitte. Es ist in Ordnung.«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich nicht stark genug sein könnte«, flüsterte er und wischte sich über die Augen. »Wie oft habe ich dem Tod ins Gesicht geblickt … Jetzt dagegen, wenn man nur warten kann … Warten, statt kämpfen zu können …«
»Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst.«
Nachdenklich sah er sie an. »Wenn ich das tue, was Kunun will, was wäre ich dann?«, meinte er. »Hast du dich das einmal gefragt? Ich wäre nicht mehr der Prinz des Lichts, der Sohn meines Vaters. Dann wäre ich wirklich ein Schatten, eine Kreatur der Finsternis. Ein böses Wesen, das sich selbst verachtet.«
»Ich werde dich niemals verachten«, versprach sie. »Mattim, hör mir doch endlich zu. Du bist nicht böse, wenn du etwas nimmst, was ich dir freiwillig gebe. Ein bisschen Blut! Die Welt geht davon nicht unter. Ich wollte immer schon mal zum Blutspenden gehen. Wenn ich irgendjemandes Leben damit retten könnte, warum nicht deins?«
»Es ist nicht bloß ein bisschen Blut«, widersprach er. »Es
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