Magyria 01 - Das Herz des Schattens
ist dein Leben. Es ist ein Teil deines Lebens, den du verlieren würdest.«
Sie dachte an Réka und verstand. »Ich würde diese Augenblicke verlieren, nicht wahr? Sie würden aus meinem Gedächtnis getilgt?«
Diese Leere in Rékas Gesicht. Die Leere im Gesicht des Mannes im Park. Bleiche, ausgezehrte, verständnislose Gesichter, denen etwas geraubt worden war. Auf einmal hatte Hanna Angst, und dennoch hörte sie nicht auf, ihm zuzureden.
»Das halte ich aus. Was sind ein paar Stunden gegen dein Leben?«
»Es ist nicht mal ein richtiges Leben«, erinnerte er sie.
»Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so echt war wie du«, sagte sie. »Noch nie. Außerdem, was glaubst du, wird Kunun tun, wenn er bei Sonnenaufgang den Fahrstuhl
öffnet? Wenn du zu Staub zerfallen bist, oder was immer mit dir geschieht? Glaubst du, er wünscht mir einen guten Morgen und lässt mich nach Hause gehen?
Das hier war nicht nur eine Falle für dich, vergiss das nicht. Kunun hat sie auch mir gestellt. Er wird nicht zulassen, dass ich dieses Haus verlasse, ohne vergessen zu haben, dass ich es je betreten habe. Also wird er mich beißen. Was, um Himmels willen, werde ich dadurch gewinnen, wenn er es tut und nicht du? Wenn ich mir vorstelle, dass er auf mich zukommt, könnte ich schreien. Ich werde kämpfen und versuchen, an ihm vorbeizukommen. Vielleicht schlägt er mich nieder. Und dann - Mattim, ich werde gegen ihn kämpfen, mit aller Kraft. Dir dagegen gebe ich mein Blut freiwillig.«
»Nein«, flüsterte er.
»Hör auf, so verdammt edelmütig zu sein! Ich will nicht, dass du stirbst. Und ich werde das so oder so durchmachen müssen, was du mir hier ersparen willst. Mit Kunun wird es nur viel schlimmer sein. Viel, viel schlimmer.«
Mattim hatte sich die Wangen getrocknet. Er stand auf und blickte ihr ins Gesicht. Seine Augen waren wieder grau wie Stein. Sie erinnerten an Felsen im Mittagslicht.
»Geh in die Sonne und schau dir diese Stadt an«, sagte sie leise. »Schau sie dir an, wie sie wirklich ist. Schau in die Sonne.«
»Hanna«, sagte er nur, und da wusste sie, dass sie gewonnen hatte.
»Tu es jetzt«, flüsterte sie. »Jetzt gleich. Warten ist schrecklich.«
Er lehnte seine Stirn gegen ihre. Dann spürte sie seine Lippen an ihrem Hals. Er zögerte.
Sie versuchte zu lachen. »Hast du überhaupt die richtigen Zähne für so etwas?«
»Schau mich nicht an dabei«, sagte er. »Ich bringe es nicht über mich, wenn du mich anschaust.«
Er drehte sie an der Schulter herum, sodass sie mit dem
Rücken zu ihm stand, und strich ihre Haare zur Seite. Sie merkte, wie trotz ihrer mutigen Reden ihre Knie wackelig waren und alles in ihr nach Flucht schrie, als sein Atem ihre Haut streifte. Er schlang seine kräftigen Arme um sie, ihre und seine Hände verschränkten sich. Sein Atem ging etwas schneller.
Dann spürte sie einen Schmerz, kurz und scharf, und gleich darauf schwer und dumpf. Es tat nicht so weh, wie sie befürchtet hatte. Eigentlich tat es überhaupt nicht weh. Ich werde es vergessen, dachte sie. Diesen Augenblick. Dass er mich so hält. Ich werde ihn vergessen. Alles werde ich vergessen …
Sie schob ihre Ängste beiseite.
Mattim , dachte sie. Mattim. Mattim. Ich halte alles fest, diesen Augenblick, diesen Namen, so wie du mich festhältst. Mattim. Die Welt begann sich um sie zu drehen, ihre Beine gaben nach, und langsam rutschten sie beide die kalte Glaswand des Fahrstuhls hinunter, bis sie gemeinsam auf dem Boden saßen, sie nach wie vor in seiner Umklammerung, und immer noch nahm er den Mund nicht von ihrem Hals.
»Mattim«, flüsterte Hanna. Sie dachte es in einem fort, sie wiederholte es wie ein Mantra, wie einen Zaubergesang. Mattim. Mattim, Mattim, Mattim … Sie warf seinen Namen wie einen Stein in einen dunklen Teich, und während er versank, sprang sie ihm nach in die Dunkelheit. Mattim …
ACHTZEHN
BUDAPEST, UNGARN
Fröstelnd zog Hanna ihren Mantelkragen höher. Eisschollen trieben von rechts nach links an ihr vorbei. Sie registrierte diese Tatsache, ebenso nahm sie wahr, dass das Wasser schnell floss, als habe es Eile. Ihr Blick wanderte etwas höher, zum jenseitigen Ufer. Mauern. Eine Burg. Irgendetwas Großes. Sie nahm den Blick von so viel majestätischer Größe zurück und richtete ihn direkt vor sich.
Schuhe. Jede Menge Schuhe. Sie standen nicht ordentlich nebeneinander, sondern so, wie ihre Besitzer sie zurückgelassen haben mussten, bevor sie ins Wasser gesprungen waren. Merkwürdig. Das
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