Magyria 02 - Die Seele des Schattens
goldenem Fell, blickte über die Schulter.
Durch den Traum hindurch sah er Hanna.
»Mattim«, sagte sie.
Er tänzelte auf sie zu, jede seiner Bewegungen voller Kraft und Anmut. Sie streckte die Hände nach ihm aus, aber er kam nicht so nahe heran, dass sie ihn berühren konnte. Er schaute sie an, und es war, als würde er ihr zunicken.
Der Duft lockte. Dort. Die Jagd. Mit den anderen. Dort.
»Geh nur«, sagte sie. »Schnapp sie dir. Geh ruhig.«
Hanna öffnete die Augen. Es war dunkel um sie her, sie brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Die leuchtenden Ziffern ihres Weckers erinnerten sie daran, wo sie war. Zu Hause. In der Dunkelheit waren schemenhaft die Umrisse ihrer Möbel zu erkennen. Der Schreibtisch, der Drehstuhl, auf der Tischplatte geordnet ihre Bücher. Das Tagebuch, in dem sie Seite um Seite mit Worten füllte, die die Bilder in ihrem Kopf nachzuzeichnen versuchten.
An der Wand hing Mattims Foto.
Sie knipste das Licht an und betrachtete es. Sein Gesicht. Schlafend. Merkwürdig , dachte sie, dass ich nur dieses eine Foto von ihm habe, auf dem er die Augen geschlossen hat. Es ist, als würde er mir den Weg zeigen, wie ich ihn finden kann. Im Schlaf. Nur im Traum.
Als sie das erste Mal nach ihrer Rückkehr von den Wölfen geträumt hatte, hatte sie versucht, den Traum festzuhalten. Und als er zu Ende war, als sie sich in ihrem Bett wiederfand, hatte sie geweint, so groß war das Gefühl des Verlusts.
Aber fast jede Nacht kam er wieder. Er blickte über die Schulter und sah sie an, wie um sicherzugehen, dass sie ihm folgte, dass sie da war. Nacht für Nacht. Traum für Traum.
So hatte er sich auch umgewandt, als er sie verlassen hatte, in jener letzten Nacht in Akink.
Die Wölfe waren satt. Zufrieden. Sie lagen im Gras. Über ihnen zog der Mond seine Bahn, rund und leuchtend. Der goldene Wolf hatte den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt und spitzte die Ohren. Von weitem war Gesang zu hören. Das lange, an- und abschwellende Heulen eines anderen Rudels. Der schwarze Wolf setzte sich auf und antwortete.
Hier in ihrem eigenen Bett erzählte ihr niemand die Geschichte. Niemand flüsterte ihr ins Ohr: Das Mädchen hielt den Wolf fest, es hielt ihn fest …
Dafür kamen die Wölfe zu ihr.
Das Geheul erfüllte die warme Nacht. Ein drittes Rudel stimmte ein, noch weiter entfernt.
Der goldene Wolf blieb stumm. Durch den Traum hindurch sah er sie an.
»Mattim«, flüsterte sie.
Komm mit. Bist du da? Bleib bei mir. Komm.
Er lief durch die Nacht und nahm sie mit, so nah, als wären sie beide dieser Wolf mit dem weizenfarbenen Fell. Die Luft war voller Gerüche und Wunder. Seine Muskeln bewegten sich kraftvoll und mühelos. Das blühende Gras regnete in ihrer beider Fell. Sie fühlte die unbändige Freude in seinem Herzen, als wäre es ihre eigene.
So viele Nächte. Tage, die vergingen und sich in Wochen verwandelten. Wochen, die sich wie eine Perlenkette aufreihten, und irgendwann war der Sommer vorbei, und der Herbst sammelte die Erinnerungen des Jahres.
Hanna öffnete das Fenster und ließ eiskalte, frostige Luft herein. Wie immer wunderte sie sich, dass nicht eine andere Stadt vor ihr lag, ein anderer Duft, und als sie sich zu ihrem Bett umdrehte, kam es ihr seltsam vor, dass die zerwühlte Decke leer war und kein blonder Schopf auf dem Kissen lag. So intensiv stellte sie sich vor, dass Mattim immer bei ihr war; manchmal war es ihr kaum möglich, sich der Wirklichkeit zuzuwenden.
»Hanna! Bist du schon wach?«
Ihre Mutter unten an der Treppe. Ihre eigene Mutter, nicht Mónika. Ihre eigene Mutter, die darauf bestanden hatte, dass sie sich an der Uni einschrieb und keine einzige Vorlesung durch Liebeskummer – »oder was immer da in Budapest schiefgegangen ist« – vertrödelte. Ihre Mutter, die sie jeden Morgen weckte und losschickte und die nicht wusste, dass sie stundenlang auf Bänken herumsaß, statt Medizin zu studieren. Dass sie den Gedanken an Blut nicht ertragen konnte. Dass sie gar nicht wissen wollte, was sich unter der Haut eines Menschen verbarg.
Manchmal klang die Stimme ihrer Mutter so, wie Mattims Stimme klingen würde: »Du wirst dich doch nicht hängenlassen, Hanna? Du gibst doch nicht auf? Du darfst traurig sein, aber dann stehst du auf und machst weiter, ist das klar?«
»Ja!«, rief sie. »Ich bin schon da.«
»Beeil dich. Telefon!«
Wer rief denn jetzt schon an, noch vor dem ersten Seminar, das um acht begann? Hanna gähnte, als sie den Hörer entgegennahm. Und
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