Magyria 02 - Die Seele des Schattens
den Gitterstäben der Dunkelheit. Aber es war zu spät. Er war verloren. Sie beide wussten, dass er verloren war.
Mattim schwieg lange. »Ich dachte, ich wäre stark genug.«
»Bist du es denn nicht?«, fragte sie alarmiert. »Heißt das, du wirst mich doch – beißen?« Sie rückte unwillkürlich von ihm fort.
»Mirita, nein.« Seine Hand griff nach ihrer und hielt sie zurück. »Keine Angst. Bleib hier. Wenn du in den Wald läufst, werden sie dich kriegen.«
»Die Schatten? Du bist auch ein Schatten.«
»Ich werde dir nichts tun. Ich bin vielleicht nicht stark genug, um andere Dinge auszuhalten, aber das – doch, das kann ich.«
»Es gelüstet dich nicht nach meinem Blut?«
»Nein«, sagte er leise. »Ich habe das Leben geschmeckt … aber hier, in Magyria, ist es nur Akink, wonach ich mich sehne. Beim Licht, ich ertrage es nicht, dass du dich vor mir fürchtest.«
In seiner Stimme schwang etwas mit, das ihr Mitleid hervorrief.
»Erzähl mir von meinem Vater. Hält er mich jetzt für einen Verräter?«
Schlimm, hatte er gesagt. Sehr schlimm. Sie sehnte sich danach, ihn zu umarmen und ihn alles Furchtbare vergessen zu lassen, aber er war immer noch der Feind, der dazu imstande war, allen anderen ebenfalls das Allerschlimmste anzutun. Sie würde nicht mehr so unvorsichtig sein, ihn zu küssen und an seine ehrliche Zuneigung zu glauben. Wie merkwürdig die Liebe doch war. Wie sie einen dazu bringen wollte, an das Unmögliche zu glauben und das längst Verlorene festzuhalten! Mirita musste vorsichtig sein, weil er zu den Feinden gehörte, weil er sie schon einmal getäuscht und verraten hatte. Obwohl nichts einfacher gewesen wäre, als sich voller Vertrauen fallen zu lassen. Leicht zu werden. Die Hände auszustrecken und sein Gesicht zu berühren und … Würde das denn jemals enden, dieser Wahnsinn der Liebe?
»Willst du das wirklich wissen?« Er antwortete nicht, und sie dachte an die Königin, die tagelang nicht aus ihrem Zimmer gekommen war. An den König, der mit versteinertem Gesicht durchs Schloss schritt.
»Das Licht«, sagte sie. »Denkst du noch daran? Du warst einmal bereit, alles für Akink zu tun. Sogar dich selbst zu opfern.« Stattdessen hast du uns getäuscht und verraten und den König des Lichts dazu gebracht, sich selbst in Gefahr zu bringen. So knapp sind wir entkommen, so knapp! Aber sie wollte ihn jetzt nicht mit Vorwürfen überhäufen. Vielleicht war sie nur aus dem einen Grund noch am Leben: weil er dachte, dass sie ihm vertraute und ihm deshalb noch von Nutzen sein konnte.
Sie sprach die Frage aus, die ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge lag. »Mattim, wer bist du? Bist du immer noch du? Würdest du zusehen, wie die Schatten sich auf die Stadt stürzen? Oder würdest du für das Licht kämpfen, so wie früher? Wie viel Licht ist noch in dir?«
Er antwortete nicht. Vielleicht war es die falsche Frage. Vielleicht gab es keine richtige Frage, die man jemandem stellen konnte, der sich in etwas Fürchterliches verwandelt hatte. Aber seine Stimme … Es war immer noch seine Stimme. Und sie war immer noch Mirita, Flusshüterin, Mitglied der Nachtpatrouille, Dienerin des Lichts.
»Die Schatten sind so stark wie zuvor«, sagte sie. »Sie weichen nicht vor dem Licht zurück. Wir sind keinen Schritt weitergekommen. Hast du dich dafür geopfert? Dafür?« Sie biss sich auf die Lippen. An sein Gewissen zu appellieren brachte ebenso wenig, wie ihn zu reizen.
»Erinnerst du dich an die Geschichte?«, fragte der Prinz zögernd, als wüsste auch er nicht, welche Frage die richtige war. »Von den Wölfen, die zu den Menschen in einer anderen Welt gingen und ihre Träume heimsuchten?«
»Du glaubtest, sie holen sich die Kraft aus dieser anderen Welt. Aber die Pforte ist geschlossen, und es hat sich nichts geändert. Erwartest du immer noch, dass ich dieses Märchen glaube?«
»Ja«, antwortete er. »Ich habe mich geirrt, aber nur, was die Anzahl der Pforten angeht. Ich dachte, es gibt bloß eine einzige, aber es sind unendlich viele. Es bringt überhaupt nichts, sie zu schließen.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, was Akink retten könnte. Alle meine Hoffnungen haben sich zerschlagen. Akink ist verloren.« Seine Stimme schien von weither zu kommen. »Ich wusste es nicht, ich dachte, wir könnten die Stadt retten … Wir können es nicht, Mirita. Ganz Magyria wird den Schatten gehören. Es gibt keine Hoffnung für das Licht.«
In seiner Stimme lag so viel Schmerz, dass sie es kaum ertrug,
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