Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Stadt sein. Dann hatte er es ganz allein geschafft. Ohne Kunun.
»Da ist er!«
Wilder drehte sich um. Noch eine Gruppe, die ihn jagte, eine kleinere, nur ein paar Männer und Frauen. Sie kamen gerade aus einem Hauseingang heraus und besprachen die Einzelheiten ihrer Vorgehensweise. Er hätte sie nicht vorher wittern können; plötzlich standen sie auf der Straße. Wenigstens ein kleiner Trost, dass er nichts falsch gemacht hatte.
»Der Wolf! Wir haben ihn!«
Langsam, mit ausgestreckten Armen, in jeder Hand einen Besenstiel, kam einer der Männer auf ihn zu.
Wilder duckte sich und rannte. Er bog um die Ecke, wollte schnell wie der Wind auf die Burg zulaufen, ein flitzender Schatten – und wäre beinahe gegen eine Mauer geprallt, die hier nicht hingehörte. Hatten sie mitten auf der Straße ein Haus gebaut? Wozu? Konnten sie nicht einfach sechzig Jahre lang alles so lassen, wie es war?
»Da!« Fenster öffneten sich über ihm. »Da ist er! Hier! Kommt her!«
Wilder schaute sich um, langsam geriet er in Panik. Hinter ihm kamen die Besenleute immer näher. Wenn er es irgendwie vermeiden konnte, erschlagen zu werden …
Dort, ein schmales hohes Haus mit einem Eingang ohne Tür, nur ein Gitter. Er zwängte sich durch die Eisenstäbe und verschwand im Dunkeln eines gewölbten Vorraums. Sofort wusste er, wo er war. Während seine Verfolger noch am Tor rüttelten, sprang er behände die Stufen hinunter.
»Wir haben ihn! Er ist hier drin! Brecht das Schloss auf!«
Der Keller der guten Erinnerungen. Die unterirdischen Räume, in denen nicht nur Wein, sondern auch Vorräte für die ganze Stadt aufbewahrt wurden, für den Fall einer Belagerung. Diese wunderbare Zeit vor sechzig Jahren! Bis zu jenem Winter, als der Donua nach heftigen Regenfällen über die Ufer getreten war und die Wölfe über die Mauer sprangen, damals, als er sich ihnen todesmutig entgegengestellt hatte, der mutige Prinz des Lichts, hinter sich seine kleinen wimmernden Schwestern …
Wilder schloss die Augen und sog tief den Duft des Gewölbes ein. Erinnere dich an das Glück … Dort hatten er und seine Freunde eins der verbotenen Fässer geöffnet. Das Gitter, immer abgeschlossen, hatten sie einfach überklettert, die Wache unter einem Vorwand weggeschickt. Eins der Mädchen hatte eine Decke mitgehabt. Sie hatten die edelsten Brände aus erlesenen Früchten und Beeren hinuntergekippt und sich darüber lustig gemacht, wozu man für den Fall einer Belagerung diese Art von Stärkung brauchte. Irgendjemand hatte ein Fass mit eingelegten Heringen geöffnet und aus Versehen umgekippt. Kein Widerhall des ausgelassenen Gelächters war mehr übrig, nichts roch hier mehr nach Fisch. Selbst die Gesichter seiner Freunde ließen sich nicht mehr abrufen. Sie hatten hier gesessen und gelacht, und dann kam die Nachricht, dass die Wölfe die Mauer überwunden hatten.
Er war losgestürmt, betrunken …
Wenigstens seine Schwestern waren entkommen. An jenem Tag jedenfalls. Wilder hatte geglaubt, dass er sie gerettet hätte, bis ihm Kunun irgendwann später erklärte, dass sie zu jung für die Verwandlung waren, dass der Schattenprinz in diesem Kampf keine ewig Zehn- oder Fünfjährigen brauchte.
Es hatte sich gut angefühlt, sich für ihren Retter zu halten.
So gut, wie es sich anfühlen würde, hier in Akink eine Pforte in die andere Welt zu öffnen.
Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Seit er mit seinen Freunden hier heimliche Gelage abgehalten hatte, schien dieser Ort für denselben Zweck weiterbenutzt worden zu sein, anscheinend gerade eben noch. Auf dem Tisch standen Becher, ein Fass war bei dem überstürzten Aufbruch der Feiernden umgekippt, und der scharfe Geruch des Alkohols, vermischt mit dem lange vermissten Duft von Aprikosen, stach in Wilders empfindliche Nase. Allein vom Einatmen konnte man betrunken werden. Er schnupperte an einer Lache und schüttelte sich, dann hob er angespannt den Kopf und spitzte die Ohren – oben klirrte etwas. Sie hatten die Kette zerschlagen und das knarrende Gitter geöffnet. Nun zögerten sie. Es war keine schöne Aufgabe, einem Wolf in einen dunklen Keller nachzusteigen. Einen Keller, in dem man mehrere Stunden Verstecken spielen konnte.
»Wir räuchern ihn aus.«
Seine Verfolger berieten sich oben an der Treppe. »Niemand muss zu ihm hinuntersteigen. Entweder er stirbt oder er versucht, ins Freie zu gelangen. Dann stehen wir hier bereit.«
Ausräuchern? Das war nicht gut. Gar nicht gut. Auch wenn er es
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