Mahlstrom
dennoch eine gewisse plumpe Ästhetik. Auch sein Gesicht war von winzigen Narben übersät. Aber trotzdem nicht hässlich.
Furchterregend, das allerdings. Das passte schon eher. Desjardins wusste nicht, wie er darauf kam.
»Sie sind immun gegenüber dem Schuldgefühl «, teilte ihm der Eindringling mit. »Wollen Sie raten, wie es dazu gekommen ist?«
Die Algebra der Schuld
Der nackte Gesetzesbrecher musterte ihn mit wachsamer Neugierde. In seinem Blick lag allerdings nur sehr wenig Furcht, wie Lubin bemerkte. Wenn man von Berufs wegen ständig mit Tausenden von Menschenleben jonglierte, war man wahrscheinlich der Meinung, dass nur die anderen Grund zur Sorge hätten. Sudbury war ein sicherer, gesetzestreuer Ort. Angesichts der gottähnlichen Macht, die Desjardins über die wirkliche Welt besaß, hatte er vermutlich längst vergessen, wie es war, tatsächlich in ihr zu leben.
»Wer sind Sie?«, fragte Desjardins.
»Mein Name ist Colin«, sagte Lubin.
»Aha. Und warum ist Rowan so scharf darauf, meine Loyalität zu testen?«
»Vielleicht haben Sie mich nicht gehört«, sagte Lubin. »Sie sind immun gegenüber dem Schuldgefühl .«
»Ich habe Sie gehört. Ich denke lediglich, dass das ein Haufen Blödsinn ist.«
»Tatsächlich.« Lubin legte eine leichte Betonung auf das Wort.
»Netter Versuch, Colin , aber ich halte mich über diese Dinge auf dem Laufenden.«
»Alles klar.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will damit nicht behaupten, dass das Schuldgefühl unantastbar wäre. Ich weiß, dass es ein paar handelsübliche Enzyme gibt, die es zersetzen können. Die richtige Sorte selektiver Wiederaufnahmehemmer wäre dazu ebenfalls in der Lage, habe ich gehört. Deshalb führen sie diese Tests durch, wissen Sie? Es vergehen kaum zwei Tage, ohne dass irgendein Bluthund an meinem Schritt schnüffelt. Glauben Sie mir, wenn ich gegen das Schuldgefühl immun wäre, wüsste ich das bereits und ebenso jede Sicherheitsdatenbank bis hinauf in die geosynchrone Umlaufbahn. Und wissen Sie, das Merkwürdigste daran ist, dass Rowan das eigentlich auch wissen muss …«
Ihm blieb keine Zeit zu reagieren. Lubin war innerhalb einer Sekunde hinter ihm und hatte ihm in der nächsten einen Arm um die Kehle gelegt. Die lange, gebogene Nadel in seiner anderen Hand kitzelte bedrohlich Desjardins' Trommelfell.
»Sie haben drei Sekunden Zeit, um mir zu sagen, wie es genannt wird«, flüsterte Lubin und lockerte seinen Griff ein klein wenig, damit Desjardins sprechen konnte.
»ßehemoth«, keuchte dieser.
Lubin zog den Griff wieder an. »Ursprungsort. Zwei Sekunden.« Und lockerte ihn erneut.
»Die Tiefsee! Juan-de-Fuca-Meeresrücken, Channer-Quelle, glaube i …«
»Ungünstigstes Szenario. Eine Sekunde.«
»Alles stirbt, verdammt noch mal! Alles löst sich einfach in Luft auf … «
Lubin ließ ihn los.
Desjardins taumelte nach vorn auf das Waschbecken zu und holte keuchend Luft. Lubin sah das Spiegelbild seines Gesichts: Die Panik ließ nach, und die höheren Hirnfunktionen setzten wieder ein, beurteilten das Gefahrenpotenzial neu und wurden sich langsam bewusst …
Dass er soeben dreimal die Sicherheitsbestimmungen verletzt hatte. Drei Verstöße, während denen das Schuldgefühl in ihm hätte aufsteigen und ihn noch fester in den Würgegriff hätte nehmen müssen, als Lubin es gerade getan hatte …
Achilles Desjardins drehte sich um und sah Lubin an. Schrecken und Furcht spiegelten sich in seinem Gesicht.
»Maudite marde …«
»Ich habe es Ihnen doch gesagt«, sagte Lubin. »Sie sind Ihr eigener Herr. Vive le gardien libre. «
»Wie haben Sie das gemacht?« Desjardins ließ sich missmutig auf das Sofa neben seine Kleider sinken. »Oder noch wichtiger: warum? Wenn ich das nächste Mal bei der Arbeit erscheine, bin ich geliefert. Rowan weiß das. Was will sie damit erreichen?«
»Ich bin nicht in Rowans Auftrag hier«, sagte Lubin. »Eigentlich ist Rowan das Problem. Ich arbeite für ihre Vorgesetzten.«
»Ach ja?« Das schien Desjardins ein wenig aufzumuntern. Kaum überraschend – Patricia Rowan hatte sich bei den einfachen Arbeitern nie sonderlich beliebt gemacht.
»Es ist zu befürchten, dass ein Teil der Informationen, die wir von ihrem Büro erhalten haben, fehlerhaft sind«, fuhr Lubin fort. »Ich bin hier, um den Mittelsmann auszuschalten und die Wahrheit herauszufinden. Und Sie werden mir dabei helfen.«
»Aber ich würde Ihnen nicht viel nützen, wenn ich jedes Mal einen epileptischen Anfall
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