Mahlstrom
sich Blattläuse als Nutzvieh zu halten … sogar Sklaven zu nehmen. Wenn ihnen genügend Zeit zur Verfügung steht, können Gene Verhaltensweisen hervorbringen, die so ausgeklügelt sind, dass man sie schon fast als genial bezeichnen kann.
»Eine Demonstration«, sagte Desjardins. »Klar. Nur zu.«
Allerdings ist die Zeit auch der Haken an der Sache. Gene sind langsam: Sie brauchen tausend Generationen, um irgendeinen optimalen Trick bei der Nahrungssuche zu erlernen, auf den ein echtes Gehirn innerhalb von fünf Minuten kommen würde. Was natürlich auch der Grund ist, warum sich Gehirne überhaupt erst entwickelt haben. Aber wenn im Zeitraum eines Gähnens hundert Generationen entstehen, könnten die Gene ihren Vorteil zurückgewinnen. Womöglich lernt die Internetfauna mithilfe der blinden, einfältigen Logik der natürlichen Auslese das Sprechen – und der arme, schwerfällige Fleischsack am anderen Ende ahnt nicht einmal, dass er ein Gespräch führt, das Generationen überspannt.
»Ich warte«, sagte Desjardins.
»Lenie Clarke ist keine Demonstration.« Der Schwarm wirbelte durch das Terrarium. Bildete sich Desjardins das nur ein, oder schien er tatsächlich irgendwie … schwächer zu werden?
Er lächelte. »Dir schwimmen langsam die Felle davon, nicht wahr?«
»Brotlaibe und Fische für die Anemone.«
»Aber du bist nicht die Anemone. Du bist nur ein winziger Teil von ihr, ganz auf dich gestellt …«
Natürlich war Zeit allein nicht genug. Die Evolution benötigte auch Abweichungen . Mutationen und Durchmischung, um neue Phänotypen zu erschaffen. Unterschiedliche Umgebungen, um alle unbrauchbaren Lebewesen auszumustern und die überlebenden zu perfektionieren.
»Clarke, Lenie. Und das Wasser leuchtet in diesem kalten Radiumlicht …«
Das Leben kann in einer Hutschachtel überdauern, jedenfalls eine Zeit lang. Aber es kann sich dort nicht weiter entwickeln . Und die Population in Desjardins' Terrarium sah inzwischen ziemlich nach Inzucht aus.
»Kostenloser Hardcore-Pedosnuff«, murmelte der Schwarm. »Mindestens elf Jahre.«
Unzählige Individuen. Die gegeneinander stießen, sich fortpflanzten. Und stagnierten.
Nur das Muster zählte.
»Erledigt«, sagte die Internetfauna und verstummte.
Desjardins wurde bewusst, dass er den Atem angehalten hatte. Er stieß ihn langsam aus.
»Tja«, flüsterte er. »Ganz so klug bist du also doch nicht. Du tust nur so, als ob du es wärst …«
Seelengefährte
Jemand hämmerte an seine Tür. Jemand hatte ganz offensichtlich den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstanden.
»Killjoy! Mach auf!«
Verschwinde, dachte Desjardins. Er schickte seine Ergebnisse an den Rest des Anemone-Teams, eine weit verstreute Gruppe von Gesetzesbrechern , denen er niemals persönlich begegnet war und die er vermutlich auch nie kennenlernen würde. Ich habe das Mistvieh erwischt. Ich habe es durchschaut.
»Achilles!«
Widerwillig lehnte er sich zurück und öffnete die Tür, ohne auch nur hinzusehen. »Was willst du, Alice?«
»Lertzman ist tot!«
Er drehte sich mit seinem Stuhl um. »Du machst Witze.«
»Ihm wurde das Rückenmark durchtrennt.« Jovellanos' mandelförmige Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. »Sie haben ihn heute Morgen gefunden. Er war hirntot. Lag einfach nur da und verhungerte. Jemand hat ihm eine Nadel durch die Schädelbasis gestochen und sein Marklager zerstört …«
»Himmelherrgott …« Desjardins stand auf. »Bist du sicher? Ich meine …«
»Natürlich bin ich sicher. Glaubst du etwa, ich denke mir das nur aus? Es war Lubin. Er muss es gewesen sein. So hat er dich gefunden und …«
»Ja, Alice, alles klar.« Er trat einen Schritt vor. »Danke … danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.« Er wollte die Tür schließen. Sie schob ihren Fuß in den Türspalt.
»Das war's? Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Lubin ist verschwunden, Alice. Er ist nicht mehr unser Problem. Und außerdem …« – er schob ihren Fuß mit seinem beiseite – »hast du Lertzman genauso wenig gemocht wie ich.«
Er schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
Lertzman ist tot.
Lertzman der Bürokrat. Die Zyste im »System«, zu untätig, um nützlich zu sein, zu tiefsitzend, um sie entfernen zu können, zu belanglos, um eine Rolle zu spielen.
Tot.
Was kümmert es dich? Er war ein Arschloch.
Aber ich habe ihn gekannt …
Der eine Mensch, den man kennt. Und die Millionen überall auf der Welt, die einem unbekannt sind.
Es hätte mich treffen
Weitere Kostenlose Bücher