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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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Tages in die Schule und schießen um sich. Sie wissen, dass sie sterben werden, aber das ist es ihnen wert, verstehen Sie? Solange sie die Scheißkerle erwischen, die sie zu Opfern gemacht haben.«
    Sie lachte – ein abgehacktes Bellen, das Geräusch von etwas, das zerbrach. »Das ist es also, was ich bin? Ein Opfer ?«
    Desjardins schüttelte den Kopf. »Die anderen sind die Opfer. Sie sind nur die Waffe, mit der sie zurückgeschlagen haben.«
    Sie schaute finster auf ihn hinab, während er ihren Blick hilflos erwiderte.
    Dann schlug sie ihm ins Gesicht.
    Desjardins fiel hintenüber; die Rückseite seines Kopfes schlug mit einem Krachen auf dem Boden auf. Stöhnend lag er da, noch immer an den umgekippten Stuhl gefesselt.
    Sie drehte sich um. Lubin versperrte ihr den Weg.
    Sie blickte ihn einen Moment lang an, ohne sich zu rühren. »Wenn Sie mich umbringen wollen«, sagte sie schließlich, »dann tun Sie es einfach. Entweder das, oder Sie gehen mir aus dem Weg.«
    Er dachte kurz nach. Dann trat er beiseite. Lenie Clarke ging an ihm vorbei und stieg die Treppe hinauf.
     
    Natürlich hatte sie ihre Kindheit tatsächlich hier verbracht. Die Szenerie war echt, es waren nur die Nebenrollen, die erfunden worden waren. Lubin wusste genau, wohin sie ging.
    Er fand sie in der Nicht-Dunkelheit ihres alten Kinderzimmers. Wie im Rest des Hauses waren auch hier die Möbel entfernt und die Wände eingesprüht worden. Als er eintrat, drehte sich Clarke um und ließ erschöpft den Blick über die kahlen Wände gleiten. »Es ist also verlassen? Steht zum Verkauf?«
    »Wir haben das getan, bevor Sie hier eingetroffen sind«, sagte er. »Nur für alle Fälle. Um die Aufräumarbeiten zu erleichtern.«
    »Ah. Nun gut, es spielt keine Rolle. Es kommt mir immer noch vor wie gestern.« Sie richtete die von den Kappen verdeckten Augen auf eine Wand. »Dort stand mein Bett. Dort hat mir … mein Vater Gutenachtgeschichten vorgelesen. Man könnte es wohl als eine Art Vorspiel bezeichnen. Und dort ist der Lüftungskanal …« – sie deutete auf ein Gitter in der Scheuerleiste – »der direkt mit dem Wohnzimmer verbunden ist. Ich konnte hören, wie sich meine Mutter ihre Lieblingsshows angeschaut hat. Diese Shows kamen mir immer ziemlich schwachsinnig vor. Aber im Nachhinein denke ich, dass sie sie vielleicht auch nicht wirklich gemocht hat. Das waren nur Alibis.«
    »Das ist nicht passiert«, erinnerte Lubin sie. »Nichts davon.«
    »Ich weiß, Ken. Ich verstehe schon.« Sie holte Luft. »Und wissen Sie was, im Moment würde ich alles dafür geben, wenn es tatsächlich geschehen wäre.«
    Lubin blinzelte überrascht. »Wie bitte?«
    Sie drehte sich zu ihm um. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wie es ist, von … glücklichen Erinnerungen verfolgt zu werden?« Sie brachte ein bitteres Lachen zustande. »Monatelang habe ich mich dagegen gewehrt. Habe mir eingeredet, ich hätte einen Gehirnschlag erlitten oder würde unter Halluzinationen leiden, weil ich, verdammt noch mal, Ken, einfach keine glückliche Kindheit gehabt haben kann. Meine Eltern mussten einfach Ungeheuer gewesen sein, verstehen Sie? Die Ungeheuer haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Sie sind der einzige Grund, warum ich den ganzen Scheiß überlebt habe, der später kam. Das Einzige, was mich am Leben erhalten hat. Ich wollte diese verdammten Krüppelficker einfach nicht gewinnen lassen. Das war es, was mich angetrieben hat. Jedes Mal, wenn ich nicht aufgegeben habe, jedes Mal, wenn ich es trotzdem geschafft habe, war es ein Schlag in ihre großen, selbstzufriedenen, allmächtigen Monsterfratzen. Alles, was ich jemals getan habe, war gegen sie gerichtet. Und jetzt stehen Sie hier und sagen mir, dass die Ungeheuer nie wirklich existiert haben …«
    Ihre Augen waren harte Flecken voller Wut. Sie funkelte ihn an, ihre Schultern zitterten. Doch schließlich wandte sie sich von ihm ab, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme leise und gebrochen.
    »Sie existieren trotzdem, Ken. Richtige, echte Ungeheuer aus Fleisch und Blut, von der altmodischen Art. Sie verstecken sich vor dem Tageslicht, kommen nachts aus den Sümpfen geschlichen und laufen Amok, wie man es von ihnen erwartet.« Sie holte tief und zittrig Luft.
    »Und das Einzige, was diese Ungeheuer zu ihrer Verteidigung vorzubringen haben, ist, dass ihnen das Gleiche passiert ist. Die Welt hat sie angeschissen, lange bevor sie sich dazu entschlossen haben, zurückzuschlagen. Und wenn es dort draußen jemanden gibt, der

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