Mahlstrom
riskieren, an Land zu gehen, aber sie hatte ihren Rucksack in Chicago mit Portionen gefriergetrockneter Lebensmittel vollgestopft. Sie stieg zur Oberfläche auf, riss die vakuumversiegelten Beutel auf wie ein Seeotter und tauchte vor der Dämmerung wieder hinab.
Sie glaubte, sich an einen Teil ihrer Kindheit erinnern zu können, den sie an dem Ort verbracht hatte, wo die drei größten Seen aufeinandertrafen: Sault Sainte Marie, der wirtschaftliche Flaschenhals am Lake Superior. Die Stadt hockte auf ihren Schleusen und Dämmen wie ein Troll an einer Brücke und forderte Abgaben von den durchfahrenden Frachtern. Inzwischen war sie nicht mehr ganz so dicht bevölkert wie früher – vierhundert Kilometer vom Rand des Hoheitsgebiets von Quebec entfernt, was manchem jedoch immer noch zu nah war, insbesondere seit der Einrichtung des Nunavut-Gebiets. Im Schatten eines Riesen lebte es sich auch so schon nicht besonders gemütlich. Ein Riese, der über Nacht unverwundbar geworden und noch immer wütend war, weil er in seiner Kindheit unterdrückt worden war, war noch um einiges schlimmer. Also waren die Leute abgewandert.
Lenie Clarke erinnerte sich, dass auch sie die Stadt verlassen hatte. Sie hatte ihre eigenen Erfahrungen mit Schatten, Riesen und einer unglücklichen Kindheit. Also war sie fortgegangen und hatte erst Halt gemacht, als sich ihr der Pazifik in den Weg gestellt und gesagt hatte: Bis hierhin und nicht weiter. Sie hatte sich in Hongcouver niedergelassen und in den Tag hineingelebt, von einem Jahr zum nächsten, bis die Netzbehörde sie schließlich in etwas verwandelt hatte, das selbst der Ozean nicht aufhalten konnte.
Und nun war sie zurückgekehrt.
Es war nach Mitternacht. Die Meerjungfrau durchschnitt leise eine Wasseroberfläche, über die die Reflexe der Stadtlichter zuckten. Die Mauern einer fernen Hubschleuse ragten vor dem westlichen Horizont auf wie eine niedrige Festung, in deren Innern das in die Höhe gepumpte Wasser des Lake Superior gefangen gehalten wurde – ein Relikt zumindest, das überlebt hatte. Clarke hielt sich rechts von der Schleuse und schwamm in Richtung Norden zur kanadischen Seite. Heruntergekommene Kais rotteten dort seit ihrer Kindheit vor sich hin. Sie öffnete ihre Kapuze und füllte ihren Brustkorb mit Luft. Ihre Schwimmflossen ließ sie zurück.
Selbst mit Nachtaugen war niemand zu sehen.
Sie ging in nördliche Richtung nach Queen und wandte sich dann nach Osten. Ihre Füße fanden instinktiv ihren Weg unter den trüben Straßenlaternen. Sie begegnete nichts und niemandem. Eastbourne Manor war noch immer nicht abgerissen worden und bröckelte weiter vor sich hin, obwohl die Papp-Fertighäuser in seiner Umgebung innerhalb der letzten zwanzig Jahre verschwunden waren.
An der Ecke Coulson Street blieb sie stehen und blickte nach Norden. Das Haus, an das sie sich erinnerte, war immer noch da, direkt an der Straßenecke. Seltsam, wie wenig es sich in zwei Jahrzehnten verändert hatte. Angenommen natürlich, dass sie diese Erinnerungen nicht in jüngerer Zeit … erworben hatte.
Immer noch war ihr nicht ein einziges Fahrzeug oder ein menschliches Wesen begegnet. Weiter im Osten – auf der anderen Seite von Riverview – war die Reihe der schwebenden Mechfliegen jedoch deutlich zu erkennen. Sie drehte sich wieder in die Richtung um, aus der sie gekommen war. Auch dort waren Mechfliegen zu sehen. Sie hatten sich an sie herangeschlichen, ohne ein Geräusch zu verursa chen.
Sie bog in die Coulson Street ein.
Die Tür erkannte sie nach all der Zeit immer noch. Sie öffnete sich wie ein Mund, doch das Innere blieb dunkel – als wüssten die Leuchtkörper, dass Lenie Clarke sie nicht mehr benötigte. Der Eingangsbereich wich vor ihr zurück, leer und unmöbliert. Seine Wände glitzerten merkwürdig, als wären sie frisch lackiert worden. In der Wand zur Linken befand sich ein Bogengang, der zum Wohnzimmer führte, wo Indira Clarke stets untätig herumgesessen hatte. Und dahinter die Treppe. Ein leerer, grauer Schlund, der in die Hölle hinaufführte.
Im Augenblick wollte sie noch nicht dort hinaufgehen. Sie seufzte und ging um die Ecke ins Wohnzimmer.
»Ken«, sagte sie.
Auch das Wohnzimmer war ein unmöbliertes Gehäuse. Die Fenster waren verdunkelt, doch das schwache Straßenlicht, das vom Eingangsbereich hereinfiel, reichte den Augen eines Rifters vollkommen aus. Lubin stand in der Mitte des kahlen Raum. Er trug Landratten-Kleidung, doch seine Augen waren hinter
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