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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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sagte sie. »Ich … habe nur ein paar Dinge gesehen. Aus der Kindheit.«
    »Der Kindheit«, wiederholte Amitav. Er schüttelte den Kopf.
    »Ja«, sagte Clarke.
    Der Kindheit von jemand anderem.

Landkarten und Legenden
    Perreault wusste nicht, warum ihr das Ganze so wichtig war. Beinahe ebenso wichtig, wie nicht zu viel darüber nachzudenken.
    Es gab keine nennenswerte Sprachbarriere. In der Zone wurden hundert Sprachen gesprochen und vielleicht zehnmal so viele Dialekte. Die Übersetzungsalgorithmen deckten die meisten davon ab. Die Mechfliegen waren normalerweise eher zu sehen als zu hören, aber die Zonenbewohner wirkten nur wenig überrascht, wenn die Maschinen sie mit Sou-Hon Perreaults Stimme ansprachen. Für alle, die mehr als ein oder zwei Tage in der Zone verbracht hatten, gehörten riesige Metallwanzen längst zum Alltag.
    Die meisten der Flüchtlinge wussten nicht, wovon sie sprach: Eine fremde Frau in Schwarz, die aus dem Meer kam? Ein eindrucksvolles Bild, ja … es hatte beinahe etwas Mythisches an sich. An eine solche Erscheinung würden wir uns mit Sicherheit erinnern, wenn wir sie gesehen hätten. Tut uns leid. Nein.
    Ein junges Mädchen mit den Augen einer weitaus älteren Frau sprach eine obskure Variante des Assamesischen, für die das System nicht ausreichend programmiert war. Sie erwähnte eine Frau namens Ganga, die den Flüchtlingen über den Ozean gefolgt war. Sie hatte gehört, dass diese Ganga vor kurzem an Land gekommen sein sollte. Das war alles. Möglicherweise gab es Unklarheiten in der Übersetzung.
    Perreault weitete das aktive Suchgebiet auf hundert Kilometer aus. Vor ihren Augen bewegte sich die Menschenmenge Stück für Stück weiter nach Norden, der wiederhergestellten Grenze folgend. Hin und wieder suchten ein paar Gedankenlose Kühlung in der Brandung; sie wurden von den gleichgültigen Haien eingekreist, die sich an ihnen gütlich taten. Perreault drehte die Reizschwelle der sensorischen Übertragung herunter. Rotes Wasser verwandelte sich in ein nicht weiter störendes Grau. Schreie wurden zu Flüstern. Aus den Augenwinkel sah sie, wie die Natur das Gleichgewicht wiederherstellte.
    Sie fuhr mit den Befragungen fort. Entschuldigen Sie. Eine Frau mit seltsamen Augen? Möglicherweise verletzt?
    Schließlich drangen Gerüchte zu ihr durch.
     
    Eine halbe Tagesreise weiter südlich, eine Weiße, ganz in Schwarz gekleidet. Eine Taucherin, die im Gefolge des Tsunami an Land gespült worden war, hieß es, vielleicht von einer Seetangfarm oder einem Unterwasserhotel.
    Zehn Kilometer weiter nördlich, eine Gestalt, schwarz wie Ebenholz, die die Zone heimsuchte und nie ein Wort sagte.
    Hier, an dieser Stelle, vor zwei Tagen: eine wilde Amphibienfrau mit leeren Augen, deren Bewegungen Gewalt verhießen. Hunderte hatten sie gesehen und sich von ihr ferngehalten, bis sie schreiend in den Pazifik zurückgestolpert war.
    Suchen Sie nach dieser Frau? Gehört sie zu Ihren Leuten?
    Mit ziemlicher Sicherheit. Die Vermisstenkartei war voller Hochseearbeiter, die während des Jahrhundertbebens verschwunden waren. Doch die meisten von ihnen waren an der Meeresoberfläche oder auf dem Kontinentalschelf beschäftigt gewesen. Die Frau, die Perreault gesehen hatte, war für die Tiefe ausgerüstet gewesen. Aus der Tiefsee war niemand als vermisst gemeldet worden. Es hatte lediglich sechs Todesfälle gegeben, Hunderte von Klicks von der Küste entfernt, auf einer der Geothermalstationen von N'AmPaz. Weitere Einzelheiten waren nicht verfügbar.
    Die Frau mit den Maschinen in ihrem Innern hatte eine Schulterklappe mit der Bezeichnung NB getragen. Vielleicht waren es also nur fünf Tote. Und eine Überlebende, die es irgendwie geschafft hatte, dreihundert Kilometer offene See zu überwinden.
    Eine Überlebende, die aus irgendeinem Grund nicht gefunden werden wollte.
    Die Gerüchte bildeten Metastasen. Inzwischen war es keine Taucherin von einer Seetangfarm mehr, sondern eine Meerjungfrau. Eine Verkörperung der Kali. Manche sagten, sie hätte in Zungen geredet, andere, sie hätte nur Englisch gesprochen. Es gab Geschichten von Auseinandersetzungen und Gewalt. Die Meerjungfrau hatte sich Feinde gemacht. Die Meerjungfrau hatte Freunde gewonnen. Die Meerjungfrau war angegriffen worden und hatte ihre Angreifer in Stücke gerissen am Strand zurückgelassen. Perreault lächelte skeptisch – eine Bananenschnecke neigte mehr zur Gewalttätigkeit als ein Zonenbewohner.
    Die Meerjungfrau lauerte im schmutzigen

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