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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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wischte sich den feuchten Sand von den Knien. »Und natürlich werden Sie zu ihnen zurückkehren wollen. Suchen Ihre Leute nach Ihnen?«
    Clarke holte tief Luft. »Ich …«
    Und hielt inne.
    Sie folgte seinem Blick durch die Menge aus braunen Leibern und erkannte die Zelte und Baracken dahinter. Wie viele Tausende – Millionen – waren über die Jahre hierhergekommen, vom ansteigenden Meeresspiegel und den sich ausbreitenden Wüsten aus ihrer Heimat vertrieben? Wie viele halb verhungerte, seekranke Menschen hatten gejubelt, als N'AmPaz am Horizont aufgetaucht war, nur um sich von Mauern und Wachtposten und von den zahllosen anderen, die vor ihnen hier angekommen waren, ans Meer zurückgedrängt zu sehen?
    Und wer konnte es ihnen verübeln? Was taten eine Million Habenichtse , wenn ihnen eine der Wohlhabenden in die Hände fiel? Suchen Ihre Leute nach Ihnen?
    Sie sank in den Sand zurück und wagte nicht zu antworten.
    »Aha«, sagte Amitav über ihr, so als hätte sie etwas gesagt.
     
    Tagelang war sie wie ein Automat gewesen, eine zielstrebige Maschine, deren einziger Zweck darin bestand, wieder ans Festland zu gelangen. Nun, da sie es geschafft hatte, traute sie sich nicht zu bleiben.
    Sie zog sich auf den Grund des Ozeans zurück. Mit der klaren Schwärze der Tiefsee war das nicht vergleichbar; hier gab es keine lebenden Kronleuchter oder Räuber mit Blitzlichtern, die das Meer erhellten. Das wenige Leben, das es gab, wand und schlängelte sich auf der Suche nach Nahrung durch das trübe grüne Licht des Kontinentalschelfs. Selbst unterhalb der Brandung betrug die Sichtweite kaum mehr als ein paar Meter.
    Besser als nichts.
    Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt zu schlafen, während ihre Taucherhaut ihre Augen offen hielt. In der Tiefsee war es einfach gewesen – man musste nur hinausschwimmen und Beebes Flutlichter weit genug hinter sich lassen, so weit, dass selbst die Augenkappen versagten. Dann sank man in Schlaf, von einer Dunkelheit eingehüllt, die so undurchdringlich war, dass sie die Vorstellungskraft einer Landratte bei Weitem überstieg.
    Hier war das allerdings nicht ganz so einfach. Hier war stets Licht im Wasser, nachts waren lediglich die Farben etwas abgeschwächt. Und wenn Clarke tatsächlich in eine unruhige, trübe Traumwelt versank, sah sie sich von mürrischen, rachsüchtigen Horden umzingelt, die sich knapp außerhalb ihres Blickfeldes versammelten. Sie hoben auf, was immer gerade griffbereit war – Steine, Knüppel aus knorrigem Treibholz, Garotten aus Draht oder Monofilamenten – und näherten sich ihr, wütend und mordlustig. Sie fuhr aus dem Schlaf hoch und fand sich am Meeresboden wieder – der Mob löste sich in Fetzen von wirbelnden Schatten auf, die über ihr verblassten. Die meisten waren nur undeutlich zu erkennen; ein paarmal erhaschte sie einen Blick auf die Flanke eines gewölbten Körpers.
    In der Nacht, wenn sich die Flüchtlinge von den Futterstationen zurückgezogen hatten, ging sie zum Essen an Land. Anfangs behielt sie ihren Gasknüppel in der Hand, für den Fall, dass sich ihr jemand in den Weg stellen sollte. Doch niemand kam ihr zu nahe. Allerdings war das wohl auch nicht weiter verwunderlich. Sie konnte nur vermuten, was die Flüchtlinge sahen, wenn sie in ihre Augen blickten. Ein Wunder der Lichtverstärkungstechnologie? Eine wichtige Voraussetzung für das Leben am Grunde des Ozeans?
    Wahrscheinlicher war, dass sie ein Ungeheuer sahen, eine Frau, deren Augen aus den Höhlen gerissen und durch Kugeln aus massivem Eis ersetzt worden waren. Wie dem auch sei, jedenfalls blieben sie auf Abstand.
    Am zweiten Tag behielt sie bereits das meiste von dem, was sie aß, bei sich. Am dritten wurde ihr klar, dass sie nicht mehr hungrig war. Sie lag am Meeresboden, blickte in die diffuse grüne Helligkeit hinauf und spürte, wie neue Kraft in ihre Glieder sickerte.
    In dieser Nacht verließ sie den Ozean, noch ehe die Sonne gänzlich untergegangen war. Der Gasknüppel steckte in dem Futteral an ihrem Bein, doch niemand forderte sie heraus, als sie die Küste hinaufstieg. Wenn überhaupt, dann machten sie einen noch größeren Bogen um sie, und das Babel aus Kantonesisch und Pandschabi klang angespannter als zuvor.
    Amitav wartete am Cycler auf sie. »Es hieß, dass Sie zurückkommen würden«, sagte er. »Aber von einer Eskorte war nicht die Rede gewesen.«
    Eskorte? Er schaute über ihre Schulter hinweg zum Strand hinunter. Clarke folgte seinem Blick; die untergehende

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