Mahlstrom
oberflächlich: ein schwarzer Ganzkörperanzug aus Lycra, der ihren Körper von den Zehen bis zum Hals und bis hin zu den Fingerspitzen nahtlos einhüllte. Dazu dekorative Accessoires, die wie Anzugsteuerelemente und die hervorstehenden Teile von implantierter Hardware wirkten. Selbst ein Namensschild mit dem Logo der Netzbehörde war an der Schulter angebracht. Nur die Augen passten nicht so recht ins Bild. Die Rifter verfügten über einen Hornhautüberzug, der ihre Augen in ausdruckslose, weiße Kugeln verwandelte. Gwen trug stattdessen hauchdünne, überdimensionierte Kontaktlinsen. Sie verdeckten die Iris sehr gut, aber gemessen an der Tatsache, wie dicht sie sich an ihn heranbeugen musste, um ihn sehen zu können, wirkten sie nicht unbedingt als Lichtverstärker.
Allerdings hatte sie schöne Wangenknochen, einen breiten Mund mit Lippen, die so scharf umrissen waren, dass man sich an den Rändern hätte schneiden können. Ihre Gesellschaft an diesem zwanglosen, öffentlichen Ort war alles, was er wollte. Genügend Zeit, um sich ihre Gesichtszüge einzuprägen, ihren Geruch auszukosten und alles in seinem Gedächtnis abzuspeichern. Sich vielleicht sogar mit ihr anzufreunden. Das würde vollkommen ausreichen; sämtliche Lücken konnte er später füllen. Und sie sogar mit Leben erfüllen.
»Ich kann gar nicht glauben, worum du dich alles kümmern musst«, sagte sie gerade. Ein zuckendes Netz aus Unterwasserlicht flackerte auf ihrem Gesicht. »All die Seuchen und Krankheiten und Systemabstürze. Und das alles liegt in deiner Verantwortung.«
»Nicht nur in meiner. Ich arbeite schließlich nicht allein.«
»Trotzdem. Entscheidungen auf Leben und Tod. Und das im Bruchteil einer Sekunde.« Ihre Hand strich über seinen Unterarm; der Flügel eines schwarzen Nachtfalters. »Menschen sterben, wenn du eine falsche Entscheidung triffst.«
»Manchmal sogar, wenn ich die richtige treffe.« Er war schon vielen Gwens begegnet. Wie jedes weibliche Säugetier war sie eine K-Strategin und fühlte sich deshalb zu den Geschlechtspartnern hingezogen, die über die größten Ressourcen verfügten – oder, im Falle der Gattung Mensch , über Macht. Weil er nach Belieben einer ganzen Stadt den Strom abdrehen konnte, nahm sie wahrscheinlich an, er besäße welche.
Ein weit verbreiteter Fehler unter K-Strategen. Für gewöhnlich ließ sich Desjardins Zeit damit, sie eines Besseren zu belehren.
Sie nahm sich ein Pflaster von einem Tablett in der Nähe und blickte Desjardins fragend an. Er schüttelte den Kopf. Er musste vorsichtig damit sein, welchen chemischen Verbindungen er seinen Körper in seiner Freizeit aussetzte. Es konnte zu viele mögliche Wechselwirkungen mit denen geben, die von Berufs wegen bereits in seinem Innern kursierten. Gwen zuckte die Achseln und klebte sich das Pflaster hinters Ohr.
»Wie gehst du mit dieser Verantwortung um?«, fuhr sie fort. »Wie kommt es überhaupt, dass man dir so viel Verantwortung übertragen hat?« Sie schüttete ihren Drink hinunter. »Die ganzen Firmenbosse und Könige und Politiker können sich doch nicht einmal darauf einigen, in welcher Farbe sie die Toiletten im Amtsgebäude der VR streichen wollen. Wieso sind sie sich plötzlich einig, gerade dir gottähnliche Kräfte zu verleihen? Bist du vielleicht unfehlbar oder so etwas?«
»Verdammt, nein.« Ein unwillkommener Gedanke durchzuckte seine Hirnrinde: Ich frage mich, wie viele Menschen ich heute umgebracht habe. »Ich mache nur … ich tue, was ich kann.«
»Ja, aber wie gelingt es dir, sie davon zu überzeugen? Was hindert dich daran, ein Flugzeug vom Himmel zu holen, um dich an deinem Boss zu rächen? Woher wollen sie wissen, dass du diese ganze Macht nicht dazu benutzt, um dich selbst zu bereichern oder deinen Freunden unter die Arme zu greifen oder eine Firma in den Ruin zu treiben, weil dir ihre Unternehmenspolitik nicht gefällt? Was hält dich im Zaum?«
Desjardins schüttelte den Kopf. »Du würdest es nicht glauben.«
»Wollen wir wetten, dass ich es erraten kann?«
»Dann rate mal.«
» Das Schuldgefühl , richtig? Und die Absolution .«
Er lachte, um seine Überraschung zu verbergen.
Gwen lachte mit ihm, griff mit der Hand in das nächstgelegene Terrarium und streichelte einen der juwelenfarbenen Frösche darin (sie waren genetisch verändert worden, sodass sie mild wirkende Psychopharmaka über die Haut absonderten). Am Ende des Manövers berührte ihre Schulter die seine. Sie wedelte ein paar
Weitere Kostenlose Bücher