Mahlstrom
Lawine aus präkambrischem Gestein hatte den Damm zerstört und ihn zugleich ersetzt. Der Fräser war durch die Bresche geströmt, nur um einen halben Kilometer stromabwärts auf eine plötzlich entstandene Mauer aus herabgestürztem Granit zu prallen. Der Stausee leerte sich nicht, sondern wurde lediglich von Nord nach Süd verlängert, während sich der gebrochene Damm nunmehr in seiner Mitte befand. Die Westmauer war eingestürzt, die Ostmauer dagegen hielt noch.
Der TransCanada Highway war in die Seitenwand der Schlucht gefräst, und seine vier Spuren durchbrachen die felsige Oberfläche der steilen Klippe. An der Stelle, wo der Damm auf den Berg traf und in den Highway überging, war eine Absperrung vom Himmel herabgesenkt worden, um die Straße abzuriegeln. Mechfliegen schwebten über der Straße und der bogenförmigen Narbe der Überlaufrinne in der Luft.
Über Nacht war die Zone weiter nach Osten gewandert. Dies war ihre neue Grenze. Und Robert Boyczuk sollte sie daran hindern, noch weiter vorzurücken.
Er warf einen Blick durch das Cockpit des Hubschraubers zu Bridson hinüber. Bridson, deren obere Gesichtshälfte unter der Haube eines Headsets verborgen war, bemerkte es nicht. Seit über einer Stunde war sie mit irgendeinem virtuellen Spiel beschäftigt. Boyczuk konnte es ihr nicht verdenken. Sie waren nun schon seit fast zwei Wochen hier, und abgesehen von ein paar Schwarzbären hatte niemand versucht, aus der Quarantäne zu entkommen. In den Tagen nach dem Erdbeben waren ein paar Fahrzeuge bis hierher durchgedrungen, aber die Absperrung – die mit diversen Quarantäneanordnungen und Statuten von N'AmPaz zugepflastert war – hatte die meisten von ihnen aufgehalten. Die übrigen hatten sich von einem Warnschuss der Mechfliegen abschrecken lassen. Es hatte keinen Grund gegeben, den Pazifizierungshubschrauber, der hinter der Mauer wartete, in Erscheinung treten zu lassen. Bridson hatte das meiste davon verschlafen.
Boyczuk nahm seine Pflichten ein wenig ernster. Grenzziehungen waren dringend erforderlich, das stand vollkommen außer Frage. Vom Nipah-Virus bis zur Hydrilla versuchte stets alles Mögliche, über die Grenze hereinzukommen. Nun, da die halbe Küste verschwunden war und die andere Hälfte gegen ganze Heerscharen von Verwesungsmikroben ankämpfte, galt es unbedingt zu vermeiden, dass sich das Chaos weiter landeinwärts ausbreitete.
Dort hatten sie ihre eigenen Probleme. Es gab auch so schon genügend Grenzen im Land. Manchmal hatte man das Gefühl, dass sich ein unsichtbares Spinnennetz über die ganze Welt gelegt hatte, ein sich langsam ausbreitendes Netz aus Haarrissen, das die gesamte Erde zu zersplittern drohte. Boyczuks Aufgabe war es, an einer dieser Grenzen zu sitzen und zu verhindern, dass irgendjemand oder irgendetwas sie überquerte, bis der Ausnahmezustand wieder aufgehoben war. Wenn er denn jemals wieder aufgehoben wurde. Manche Orte in Südamerika – und auch einige in N'AmPaz – standen seit acht oder neun Jahren unter »vorübergehender Quarantäne«.
In den meisten Fällen fanden sich die Menschen einfach damit ab. Boyczuks Job war nicht besonders schwierig.
»He«, sagte Bridson. »Schau dir das mal an.«
Sie legte die Anzeige ihres Headsets auf den Bildschirm des Cockpits um. Also doch kein VR-Spiel. Sie hatte sich in die Mechfliegen eingeklinkt.
Auf dem Bildschirm war eine Frau zu sehen, die auf dem von Rissen durchzogenen Asphalt kauerte. Boyczuk ermittelte die genaue Position: ein paar hundert Meter den Highway hinunter, hinter der Krümmung des westlichen Felsabhangs verborgen. Eine der Mechfliegen draußen über dem Damm hatte sie um die Ecke herum gesichtet.
Sie trug einen Rucksack und locker sitzende Kleider, die wie Wanderbekleidung aussahen. Ihre obere Gesichtshälfte war von einer Datenbrille verdeckt. Schwarze Handschuhe, kurzes, schwarzes Haar – nein, halt, eine Art schwarze Kapuze, die vielleicht zur Datenbrille dazugehörte. Als modisches Ensemble verfehlte es seine Wirkung, jedenfalls Boyczuks bescheidener Ansicht nach.
»Was tut sie da?«, fragte Boyczuk. »Wie ist sie überhaupt hierhergekommen?« Weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen, aber vielleicht hatte sie es weiter die Straße hinunter stehen gelassen.
»Nein«, sagte Bridson. »Das kann nicht ihr Ernst sein!«
Die Frau hatte die Hockstellung einer Sprinterin eingenommen.
»Das ist nun wirklich keine gute Idee«, stellte Bridson fest. »Sie könnte sich einen Knöchel
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