Mahlstrom
die Gürtellinie – Martins Schwester wohnte in Corvallis, das nach dem Jahrhundertbeben nicht nur unter Quarantäne gestellt worden, sondern seit gut einem Monat vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten war. In den offiziellen Berichten hieß es, Nachbeben würden immer wieder die Überlandleitungen zusammenbrechen lassen, und auf den Bildern im N'AmWire war die übliche Bildfolge von Bürgern zu sehen, erschrocken, aber gefasst, die mutig der vorübergehenden Isolation standhielten. Martin war seit drei Wochen nicht mehr zu Crys durchgekommen.
Sou-Hons Worte hätten ihn reizen oder sogar wütend machen müssen, doch er saß nur da und breitete hilflos die Hände aus. »Sou, du hast in den letzten Monaten so viel durchgemacht. Natürlich sieht in deinen Augen gerade alles ziemlich düster aus. Aber ich glaube wirklich, dass du diesen Gerüchten zu viel Gewicht beimisst. Aufstände und Feuersbrünste und … ich meine, die Hälfte der Postings hat doch nicht einmal einen Absender. Heutzutage kann man sich auf gar nichts mehr verlassen, was aus dem Mahlstrom kommt …«
»Du verlässt dich also lieber auf N'AmWire? Als ob die dort irgendetwas senden würden, was ihnen die Firmenbosse nicht vorgekaut haben!«
»Aber was weißt du denn schon Genaues, Sou? Was hast du wirklich mit eigenen Augen gesehen? Du hast selbst zugegeben, dass du lediglich einen kurzen Blick auf ein großes Schiff erhascht hast, das in Richtung Festland geflogen ist. Du hast es nicht einmal in Aktion gesehen …«
»Weil es mir die Fliege direkt unter dem Hintern weggeschossen hat!«
»Und du hättest eigentlich gar nicht dort sein dürfen, du Närrin! Du hast Glück gehabt, dass sie deine Spur nicht zurückverfolgt und dir augenblicklich den Vertrag gekündigt haben!«
Er verstummte. Das Gluckern des Aquariums im Nebenzimmer wirkte plötzlich sehr laut.
Bereits im nächsten Moment machte er schon wieder einen Rückzieher: »Oh, Sou. Es tut mir leid. Ich wollte nicht …«
»Schon gut.« Sou-Hon schüttelte den Kopf und tat seine Bemühungen mit einer Handbewegung ab. »Wir sind hier sowieso fertig.«
»Sou …«
Sie stand vom Tisch auf. »Du könntest selbst mal eine Diät vertragen, mein werter Ehegatte. Verlier ein paar Pfunde, dann siehst du vielleicht einiges klarer. Und vielleicht fragst du dich ja dann sogar mal, was sie in dieses sogenannte Essen tun, das du mir ständig aufdrängen willst.«
»Oh, Sou. Du glaubst doch nicht etwa …«
Sie ging in ihr Büro und schloss die Tür.
Ich will irgendetwas tun!
Sie lehnte sich gegen die Tür und schloss die Augen. Martin, sicher ausgeschlossen, schlurfte auf der anderen Seite noch ein wenig hin und her und verschwand dann.
Mein ganzes Leben lang bin ich eine Voyeurin gewesen! Ich habe immer nur zugeschaut! Und jetzt beginnt die Welt in die Brüche zu gehen, und sie fahren die großen Geschütze auf und legen alles in Schutt und Asche, und ich bin ein Teil davon und kann nichts dagegen tun …
Sie verfluchte das fehlerhafte Pflaster, das sie bei der Arbeit in Hongcouver getragen hatte. Doch der Fluch klang leer und farblos. Selbst jetzt noch konnte sie es eigentlich nicht bedauern, dass sie so unsanft wachgerüttelt worden war. Sie war nur wütend über die Dinge, die sie gesehen hatte, als sie die Augen aufgeschlagen hatte.
Und Martin gibt sich die größte Mühe, mich zu trösten. Er ist so ernsthaft und glaubt wahrscheinlich tatsächlich, dass alles besser wird, wenn ich mich erst wieder in ein haploides Schaf verwandele, so wie er eines ist …
Sie ballte die Hände zu Fäusten und genoss den Schmerz, als ihre Fingernägel sich in ihre Handflächen bohrten. Lenie Clarke ist kein Schaf , dachte sie.
Clarke hatte die Zone längst verlassen, trotz Amitavs Bemühungen, ihren Geist am Leben zu erhalten. Aber sie war immer noch irgendwo dort draußen. Sie musste es sein. Wie ließe sich sonst die ständig wachsende Zahl schwarzer Uniformen und leerer Augen auf der Welt erklären? Perreault ging nicht besonders oft vor die Haustür, aber die Zeichen waren da, selbst in dem vorverdauten Brei, den N'AmWire den Zuschauern servierte. Dunkle Gestalten an Straßenecken. Augen ohne Pupillen, die einen aus den Menschenmengen anblickten, die sich stets im Hintergrund aktueller Ereignisse versammelten.
Das war natürlich nichts Neues. Vor knapp einem Jahr war über die Taucher von N'AmPaz viel in der Presse berichtet worden. Erst wurden sie als Retter der neuen Wirtschaft gefeiert,
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