Mahlstrom
als modische Idole und Vorreiter der Gesellschaft. Dann, als Gerüchte über Missbrauch und psychische Erkrankungen an die Öffentlichkeit gelangten, wurden sie bedauert und gefürchtet. Und schließlich zwangsläufig vergessen.
Eine alte Modewelle. Rifter-Chic war längst schon wieder Schnee von gestern. Warum wurde dieser Erscheinung, die kurz im staubigen Rückspiegel auftauchte, also auf einmal neues Leben eingehaucht? Wie ließ sich das feine Geflecht aus Andeutungen erklären, das sich durch den Mahlstrom zog, dieses Getuschel über eine Frau, die aus der Tiefsee heraufgekommen war und die Apokalypse in sich trug? Woher stammten diese bruchstückhaften Gerüchte, deren Absender nicht mehr zu erkennen war, über Menschen, die das Heft selbst in die Hand genommen hatten?
Perreault öffnete die Augen. Ihr Headset hing an seinem Haken vor ihrem Schreibtisch. An der Seite blinkte eine LED-Anzeige: Eine neue Nachricht.
Wahrscheinlich wollte jemand mit ihr die Schicht tauschen. Oder irgendein Abteilungsleiter wollte ihr Überstunden bezahlen, damit sie weiter in die andere Richtung schaute.
Womöglich ist wieder ein Cycler zerstört worden , dachte sie hoffnungsvoll. Aber das war eher unwahrscheinlich. In der Zone war es wesentlich ruhiger geworden, seit Amitavs Revier … herausgeschnitten worden war.
Sie holte tief Luft, machte einen Schritt nach vom und nahm Platz. Setzte sich das Headset auf:
Souhon/Amitav (Nachname unbekannt)
zufällig diesem Racheengel begegnet sind. Kein Scheiß. Lenie Clarke, hieß sie.
Oh, mein Gott.
Der Text überlagerte ihre taktische Karte der Zone. Sou-Hon zwang sich still zu sitzen und drängte den ganzen Dreck, der in ihr aufgewirbelt wurde, in die winzige Grube zurück, die sich in ihrem Magen aufgetan hatte.
Sie sind wieder da. Wer immer Sie sind.
Was wollen Sie?
Sie hatte aus ihrem Interesse an Amitav oder Lenie Clarke kein Geheimnis gemacht. Anfangs hatte es dafür auch keinen Grund gegeben. Beide waren legitime Themen für Gespräche mit Kollegen gewesen, wenngleich sich die anderen Mechflieger offenbar nicht sonderlich dafür interessiert hatten. Doch seit sich die Dunkelheit über Amitav herabgesenkt hatte, hatte sie geschwiegen. Auch wenn es ihr schwergefallen war. Ein Teil von ihr wollte ihr Wissen über diese Gräueltat einfach lauthals in den Mahlstrom hinausschreien. Doch aus Furcht vor den möglichen Konsequenzen hatte sie sich damit zufrieden gegeben, Martin anzuschreien, und hoffte, dass derjenige, der ihre Mechfliege abgeschossen hatte, sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie zu ihrem Ursprungsort zurückzuverfolgen.
Das hier war jedoch weder die BRIKS noch die NB. Es sah eher nach einer technischen Störung aus.
Eine weitere Textzeile erschien unter den beiden ersten:
Sie ist so eine Art Amphibie, einer von diesen Riftercyborgs.
Es gab keinen Kanal, in den sie sich hätte einklinken, kein Icon, das sie hätte anklicken können. Hinter dem Text patrouillierte die vertraute Kette aus roten Punkten weiter die Pazifikküste entlang, ohne sich der sie überlagernden Zeichen bewusst zu sein.
Les beus suchen wahrscheinlich nach ihr, aber ich wette fünfzig Quédollar, dass die nicht einmal wissen, wie sie unter all der Ausrüstung überhaupt aussieht. Souhon oder Amitav (Nachname unbekannt)?
Möglicherweise hatte sich derjenige auch in das Mikrofon ihres Headsets eingehackt. »Mein Name ist … Sou-Hon. Mit einem Bindestrich.«
Sou-Hon.
»Ja.«
Sie kennen Lenie Clarke.
»Ich … habe sie schon einmal gesehen.«
Das reicht aus.
Eine unsichtbare Faust schloss sich um Sou-Hon Perreault und schleuderte sie einmal um die halbe Welt.
Die Pazifikküste und die taktischen Anzeigen waren augenblicklich verschwunden. An ihrer Stelle tauchte plötzlich eine Sackgasse aus Mauern und Maschinen auf. Graupelschauer regneten nieder, von einem Wind gepeitscht, der kälter war als alles, was die Zone jemals gesehen hatte. Der Regen prasselte überall auf Glas und Metall. Die stilisierten Windhunde, die in die metallenen Oberflächen eingeritzt waren, rührten sich nicht.
Doch die Umgebung war nicht gänzlich menschenleer, wie Perreault bemerkte. Direkt vor ihr stand eine Frau mit dem Rücken zu einer Wand, die die Farbe rohen Fleisches hatte. Die Busse um sie herum waren an Buchsen angeschlossen, die aus der Wand herausragten, und schnitten ihr den Fluchtweg zur Seite ab. Sie konnte nur entkommen, indem sie geradeaus
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