Maienfrost
oben angelangt, mit einer faszinierenden Panoramasicht belohnt. Sie umfasst die Bäderküste und reicht bis hinein ins Inselinnere nach Bergen oder Putbus, ja sogar bis zum Vilm, einer kleinen Insel, die vor der Putbuser Mole im Wasser ihre Umrisse zeigt.
Ungeachtet der ihn umgebenden Pracht steuerte Gero Hauser das Eingangspodest des Schlosses an. Der Anblick, der sich ihm dort oben bot, ließ ihm den Atem stocken. Mit letzter Kraftanstrengung gelang es ihm, seine völlig wild gewordenen Hunde zur Räson zu bringen. Dann versagten des pensionierten Revierförsters Beine den Dienst. Unter Schock stehend, sank er neben seinen winselnden Zweibeinern in die Knie. Nachdem er sich halbwegs vom ersten Schreck erholt hatte, tastete er mit zitternden Händen nach seinem Mobiltelefon, zog es aus der Tasche seiner Jacke und rief die Polizei.
Das Bild, das sich den Beamten, die wenig später am Tatort eintrafen bot, glich auf erschreckende Weise dem, welches sie von der Viktoria-Sicht noch bestens in Erinnerung hatten.
Der einzige Unterschied bestand darin, dass diesmal das Podest vor dem in der Morgensonne hell und freundlich erstrahlenden Jagdschlosses mit all seinen Türmchen und Zinnen als Kulisse für das effektvoll in Szene gesetzte Kunstwerk diente.
Ansonsten schien alles identisch. Wieder war es eine zierliche junge Frau mit schwarzem Haar und südländischem Aussehen, die, als Braut gekleidet, mit durchgeschnittener Kehle und der mittlerweile obligatorischen weißen Lilie in der Hand auf den kalten Betonboden aufgebahrt, ruhte.
7
Aufmerksam verfolgte Leona Pirell die Ausführungen des aus München kommenden Gastdozenten, die sich mit den Möglichkeiten der Rechtsmedizin bei der Verbrechensbekämpfung befassten. Seit Anfang der Woche weilte sie auf einem der alljährlich stattfindenden Kongresse der Gesellschaft für Rechtsmedizin. Obwohl sie keine Möglichkeit versäumte, sich weiterzubilden, war sie in ihrem ursprünglichen Bestreben, die Todesursache im Fall Austen/Küster aufzuspüren, noch keinen Schritt weitergekommen.
Die nach dem Mittagessen angekündigte Rede des Professors Eduard Hagen bildete den Abschluss des viertägigen Symposiums. Leona rechnete damit, am späten Abend wieder daheim zu sein. Vor ihr lagen drei wundervolle Wochen des Nichtstuns. Sie hatte sich vorgenommen, ihren Jahresurlaub diesmal zu Hause zu verbringen. Neben ihrem Hobby, dem Wandern, wollte sie sich wieder einmal Zeit für die Lektüre einiger spannender Taschenbücher nehmen. Zudem warteten etliche medizinische Dissertationen, die schon seit längerem auf ihrem Schreibtisch lagen, darauf, von ihr durchgesehen zu werden. Sie hatten sich dort im Laufe der Monate angesammelt, weil sie während ihrer regulären Arbeitszeit einfach nicht dazu kam, sich fachlich auf dem Laufenden zu halten.
Eine männliche Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«, wollte Professor Hagen, ihr die Hand reichend, wissen.
Gleichermaßen geehrt wie irritiert nickte Leona. Auf einen der Stühle neben sich weisend, meinte sie: »Bitte setzen Sie sich doch!« Während sie sprach, blickte sie gespannt in das charismatische, von schlohweißem Haar umrahmte Gesicht ihres Gegenübers. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was eine, zu den Koryphäen der Rechtsmedizin gehörende Persönlichkeit, mit ihr besprechen wollte. Doch ihre Neugier wurde bald gestillt.
»Sie haben mich«, eröffnete, nachdem er der jungen Frau gegenüber Platz genommen hatte, Professor Hagen das Gespräch, »vor Jahren einmal um Rat ersucht. Wenn mein Erinnerungsvermögen mich nicht im Stich gelassen hat, ging es bei Ihrer Anfrage um die Obduktion zweier Leichen, deren offensichtliche Verletzungen nicht der tatsächlichen Todesursache entsprachen. Ich meine, mich zu besinnen, dass Sie den Fall von Ihrem Großvater, gleichfalls einem Kollegen, der mir leider nur namentlich bekannt war, übernommen haben. Bin ich soweit richtig informiert«, vergewisserte sich der Arzt bevor er weiter sprach.
»Das stimmt«, bestätigte ihm Leona. Sie war verwundert, gleichzeitig aber auch geehrt, dass dem promovierten Wissenschaftler nach dieser langen Zeit ihr Gespräch und dessen Inhalt noch präsent war.
»Nach wie vor suche ich Licht in das Dunkel dieser mysteriösen Mordfälle zu bringen. Ein Kollege brachte mich vor Jahren auf die Idee, mich an Sie zu wenden. Ich ließ Ihnen eine von meinem Großvater erstellte Aktenkopie zukommen. Sie
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