Maienfrost
in dem zwischen Pirna und dem Nationalpark gelegenen Ort, mietete Henning sich im Dorfgasthof ein. Obwohl der Tag sich bereits dem Abend entgegen neigte, brach er noch einmal auf, um die Gegend zu erkunden. Der Dorfstraße folgend, führte ihn sein Weg zu dem aus massiven Sandsteinquadern im Stil der Dresdener Frauenkirche gebauten Gotteshaus. Inmitten des Friedhofs gelegen, wurde in seiner unmittelbaren Nähe jenes dreizehn Jahre zurückliegende Verbrechen begangen, welches ihn hierher geführt hatte. Anhand des Tatortfotos gelang es dem Kommissar recht schnell, die Stelle auszumachen, an der die Leichen damals aufgefunden wurden. Gedankenversunken ließ er seinen Blick über die Gräberreihen schweifen. Hinter einer Hecke verborgen, so dass nur noch der mit Efeu bewachsene Giebel zu sehen war, lag das Pfarrhaus. Einer Eingebung folgend, schlug Henning den Weg dorthin ein. Dem Namensschild neben der Tür konnte er entnehmen, dass der Gemeindepfarrer Jacob Glück hieß. Auf sein Klingeln erschien dessen Frau. Als der Kommissar darum bat, mit ihrem Mann sprechen zu dürfen, erhielt er die Auskunft, dass sich Jacob Glück in der Kirche aufhalte.
Nachdem Henning sich bedankt hatte, ging er zu dem, wie ihm ein Schild verriet, unter Denkmalschutz stehendem Bauwerk zurück. An der Eingangspforte hielt er einen Moment lang inne. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, wann sein Fuß das letzte Mal die Schwelle eines Gotteshauses überschritten hatte. Zögerlich betrat der Kommissar den ganz in Weiß, mit zarten Goldverzierungen gestalteten Innenraum. Augenblicklich drang Orgelmusik an sein Ohr. Obwohl für geistliche Musik wenig empfänglich, lauschte Henning andächtig den Tönen, die der Organist seinem Instrument zu entlocken vermochte. Noch bevor er dazu kam, den Titel des ihm vage bekannten Stücks zuzuordnen, brach das Spiel abrupt ab. Schritte näherten sich. Wenig später stand dem Kommissar ein großer stämmiger Mann mit Vollbart und einer Nickelbrille gegenüber, der sich ihm als der von ihm Gesuchte zu erkennen gab. Auf die Frage nach dem Grund seines Hierseins stellte Henning sich dem Pastor als pensionierter Kriminalbeamter vor.
»Vor dreizehn Jahren wurden auf dem Friedhofsgelände zwei Menschen ermordet«, kam er ohne Umschweife auf den Grund seines Besuchs zu sprechen. »Ich nehme an, Sie erinnern sich«, vergewisserte er sich vorsichtshalber.
Jacob Glück wirkte betroffen. Nachdenklich nickte er. »Sicher ist mir der Fall bekannt – allerdings nur aus der Überlieferung. Zu jener Zeit versah Pfarrer Güldner hier noch seinen Dienst. Ich bin erst nach seinem Tod, der nunmehr zehn Jahre zurückliegt, hierher beordert worden. Darf ich nach dem Grund fragen, weshalb Sie sich nach all der Zeit noch immer mit diesem Verbrechen befassen? Meinem Wissen nach, wurde es doch aufgeklärt. So viel mir bekannt ist, war der Täter ein kurzzeitig in der Stadt weilender Geistlicher …«
»Das war die offizielle Version, ja. Allerdings gab es damals schon anders lautende Verdachtsmomente. Nur nahm die an offizieller Stelle scheinbar niemand zur Kenntnis. Der Fall wurde geschlossen und zu den Akten gelegt. Der von der Polizei hinzugezogene Rechtsmediziner hingegen vertrat bis zu seinem Tod die Ansicht, dass Carmen Austen und David Küster bereits tot waren, bevor ihnen die äußerlich sichtbaren Verletzungen zugefügt wurden. Woran die beiden starben, ist bis heute nicht geklärt. Doch aufgrund seiner Erkenntnisse ging Albert Pirell, der Pathologe, davon aus, dass der Geistliche nicht wie angenommen der Täter sondern gleichfalls eines der Opfer war. Schließt man sich, so wie ich, dieser Vermutung an, dann ist davon auszugehen, dass es dem wahren Mörder gelang, bis heute unerkannt zu bleiben. Und da dieser Zustand für mich inakzeptabel ist, bin ich hier, um den Fall noch einmal gründlich unter die Lupe zu nehmen. Jedoch hoffte ich, mit dem damaligen Pfarrer persönlich sprechen zu können. Sein Tod erschwert die Sache.«
Es war dem Kommissar anzusehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Aber«, so bemerkte er nach einer Weile, »vielleicht können Sie mir ja in einem anderen Punkt weiterhelfen und mir sagen, wo ich folgende Personen antreffen kann.« Sein Notizbuch aufschlagend, nannte er dem Geistlichen eine Reihe von Namen, die in Albert Pirells Aufzeichnungen als Zeugen vermerkt waren. Der Pfarrer verfügte über ein hervorragendes Personengedächtnis und so gelang es ihm recht schnell die Liste
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