Maienfrost
wie es sich ergab, dass er die Trauung übernahm?«
Christabelle Kronstedt überlegte kurz. »Er kam völlig überraschend«, berichtete sie. »Wir hatten lange nichts von ihm gehört. Wie er uns erzählte, lebte er einige Zeit als Missionar in Afrika. Unmittelbar nach Abschluss seines Theologiestudiums ging er ins Ausland. An jenem Tag kehrte er von einem mehrere Monate dauernden Einsatz zurück. Sein Besuch war als Zwischenstopp auf dem Weg zu seinen in Köln lebenden Eltern gedacht. Als Micha am nächsten Morgen vom Bäcker kam, berichtete er davon, dass Pfarrer Güldner über Nacht schwer erkrankt sei. Weil sich auf die Schnelle kein Ersatz für ihn finden ließ, schlug mein Sohn vor, die Trauung von David Küster übernehmen zu lassen.«
Henning, der interessiert zugehört hatte, machte sich hin und wieder einige Notizen. An dieser Stelle jedoch hielt er es für angebracht, Christabelle Kronstedts Bericht zu unterbrechen. Verwundert fragt er: »Habe ich das jetzt richtig verstanden? Ihr Sohn machte den Vorschlag?«
»Allerdings.«
»Wäre die Erkrankung des Pfarrers nicht vielmehr der ideale Grund für ihn gewesen, die Hochzeit wenn nicht zu verhindern, so doch hinauszuschieben und somit Zeit zu gewinnen? Warum ließ er den Dingen nicht einfach ihren Lauf? Haben Sie sich darüber jemals Gedanken gemacht?«
»Das habe ich nicht«, gestand Frau Kronstedt. »Wozu auch? Schließlich hatten sich die beiden bereits tags zuvor auf dem Standesamt das Jawort gegeben. Was glauben Sie, hätte Micha damit erreicht, wenn die kirchliche Trauung noch um einige Zeit verschoben worden wäre? Die Würfel waren gefallen. Es gab kein Zurück mehr. Micha niedere Beweggründe zu unterstellen, halte ich für schäbig! Er wollte Carmen lediglich einen Gefallen erweisen, so wie er stets versuchte, ihr alles recht zu machen. Wenn schon, dann wäre selbstlos der richtige Ausdruck für sein Handeln. Diese Sichtweise passt im Übrigen auch viel besser zu meinem Micha. Oder können Sie mir sagen, wie viele erwachsene Söhne heutzutage zu dem Opfer bereit sind, sich tagein, tagaus um ihre alte Mutter zu kümmern? Mein Micha jedenfalls gehört dazu. Er sorgt sich aufopfernd um mich.«
»Ich wollte ihrem Sohn keineswegs zu nahe treten«, entschuldigte sich Henning.
Das, was er bisher herausgefunden hatte, vor allem die Tatsache, dass sich Micha Kronstedt zurzeit in Stralsund aufhielt, veranlassten ihn, die Befragung fürs Erste zu beenden. Er rechnete ohnehin nicht damit, noch viel mehr Neues in Erfahrung zu bringen. Auf keinen Fall wollte er, dass seine Gesprächspartnerin argwöhnisch wurde. Ihren Worten zufolge war ihr Sohn schließlich ein Ausbund an Ehrenhaftigkeit und Nächstenliebe. Ob dem wirklich so war, oder ob diese Wunschvorstellung nur im Kopf seiner Mutter bestand, das wollte Henning selbst herausfinden.
Konnte es ein Zufall sein, dass Carmens langjähriger Freund ausgerechnet jetzt seinen Urlaub so nahe den Verbrechensschauplätzen auf Rügen verbrachte? Auszuschließen war es nicht. Doch das reichte Henning nicht. Er musste Gewissheit haben. Also rief er, nachdem er ins Gasthaus zurückgekehrt war, Peer an, um ihn über den neuesten Stand seiner Ermittlungen zu informieren. Er bat ihn, herauszufinden, in welchem Hotel Micha Kronstedt abgestiegen war. Gleichzeitig beauftragte er ihn, seine Vergangenheit zu durchleuchten.
Als Henning jedoch darauf bestand, Micha wegen eines Alibis hinsichtlich der Mordnächte befragen zu lassen, stieß er auf Widerstand. »Du kannst nicht allen Ernstes von mir verlangen«, hielt ihm sein Freund entgegen, »dass ich aufgrund äußerst fadenscheiniger Verdachtsmomente diesen Herrn Kronstedt einem Verhör unterziehe. Hast du mal darüber nachgedacht, welche Konsequenzen es für mich hätte, wenn sich das Ganze als Irrtum herausstellt? Wenn du mir stichhaltige Beweise liefern kannst, können wir noch einmal darüber reden – eher nicht. Was seinen Aufenthaltsort betrifft, so will ich sehen, was ich machen kann. Wenn du glaubst, sein Alibi überprüfen zu müssen, dann tue das. Aber bitte schön in eigener Regie! Ich melde mich bei dir, sobald ich herausgefunden habe, wo er abgestiegen ist. Tut mir Leid, aber mehr kann ich im Augenblick wirklich nicht für dich tun.« Mit diesen Worten beendete Peer das Telefonat.
Henning war frustriert. Zwar wusste er selbst, dass er kaum mehr als den Hauch eines Verdachts gegen Micha Kronstedt in Händen hielt, aber irgendwo musste er doch schließlich
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