Maigret - 18 - Maigret in Nöten
Schiffer erhob sich seufzend, und Maigret war erstaunt, dass er so klein und alt wirkte.
»Sagen Sie mir, was Sie wissen, Gassin. Ihr Kollege in Châlons hatte keine Hinterbliebenen. Sie aber haben eine Tochter.«
Er bereute seine Worte augenblicklich, denn der Blick, der ihm begegnete, war so schrecklich fragend, dass er fühlte, nun musste er lügen, und gut lügen, um jeden Preis.
»Ihre Tochter wird geheilt werden.«
»Vielleicht, kann schon sein.«
Man hätte meinen können, es sei ihm egal. Darum ging’s nicht, verdammt! Maigret wusste es. Sie waren an einem Punkt, an dem er lieber nicht angelangt wäre. Aber Gassin stellte keine Fragen. Er schwieg, er beobachtete, das war alles. Aber es war beängstigend.
»Bis jetzt lebten Sie glücklich und zufrieden auf Ihrem Schiff …«
»Wissen Sie, weshalb ich immer dieselbe Strecke fahre? Es ist die Route, die wir gemacht haben, als ich geheiratet habe.«
Sein Fleisch war ganz zäh, die Haut von tausend dunklen Fältchen durchzogen.
»Antworten Sie mir, Gassin. Wissen Sie, wer den Anschlag auf Ducrau verübt hat?«
»Noch nicht.«
»Wissen Sie, weshalb sein Sohn sich selbst angeklagt hat?«
»Vielleicht.«
»Wissen Sie, weshalb der Schleusenwärter erhängt wurde?«
»Nein.«
Er war aufrichtig, darüber bestand kein Zweifel.
»Komme ich ins Gefängnis?«
»Bloß wegen unerlaubten Waffenbesitzes kann ich Sie nicht in Haft behalten. Ich kann Sie nur bitten, ruhig und geduldig das Ende meiner Ermittlungen abzuwarten.«
Die kleinen leuchtenden Augen waren wieder aggressiv geworden.
»Ich bin nicht der Arzt aus Châlons«, sagte Maigret noch.
Gassin lächelte, als der Kommissar sich erhob, ermüdet von diesem Verhör, das keines war.
»Ich werde jetzt unverzüglich Ihre Freilassung veranlassen.«
Das war das Einzige, was er tun konnte. Draußen herrschte immer noch dieses unwahrscheinlich frühlingshafte Wetter ohne einen Tropfen Regen, kein Wolkenbruch, kein Wölkchen am Himmel. Auf einem kleinen Platz, rund um die Kastanienbäume, war der Boden hart und ganz hell. Die städtischen Straßenreinigungswagen besprühten tagaus, tagein den Asphalt, der so aufgeweicht war wie im Hochsommer.
Auf der Marne, auf der Seine, auf dem Kanal selbst mengten sich kleine, farbig gestrichene oder lackierte Boote mit nacktarmigen Ruderern unter die Kähne.
Überall waren Straßencafés eingerichtet worden, und wenn man an ihnen vorbeiging, wehte einem der Duft frisch gezapften Biers entgegen. Viele der Schiffer waren noch nicht wieder an Bord gegangen. Sie zogen von Bistro zu Bistro, mit ihren gestärkten Kragen, die Gesichter zunehmend gerötet.
Eine Stunde später erfuhr Maigret im Café am Quai, dass auch Gassin nicht nach Hause zurückgekehrt war, sondern ein Zimmer bei Catherine über dem Tanzschuppen genommen hatte.
8
Es war ein Sonntag, wie man ihn nur aus Kindheitserinnerungen kennt, so prächtig, und alles wie neu, vom stahlblauen Himmel bis zum Wasser, in dem sich die Häuser, leicht in die Länge gezogen, spiegelten. Selbst die Taxis waren roter oder grüner als sonst, und die menschenleeren Straßen ließen munter das geringste Geräusch widerhallen und trugen es weiter.
Maigret ließ den Wagen kurz vor der Schleuse von Charenton halten. Aus dem Café kam ihm Lucas entgegen, den er beauftragt hatte, Gassin zu überwachen.
»Er hat sich nicht gerührt. Gestern Abend hat er mit der Frau des Tanzlokals beim Trinken gesessen, aber er hat den Schuppen nicht verlassen. Vielleicht schläft er noch.«
So, wie die Straßen leer waren, sah man auch auf Deck der Kähne keinen Menschen. Nur ein kleiner Junge saß auf einem Steuerruder und zog sich seine Sonntagsstrümpfe an. Lucas zeigte auf die ›Toison d’Or‹ und sagte gleichzeitig:
»Gestern war die Verrückte ziemlich nervös. Vier- oder fünfmal ist sie kurz in der Ausstiegsluke aufgetaucht, und einmal ist sie zum Café an der Ecke gelaufen. Ein paar Schiffer haben sie bemerkt und sind den Alten holen gegangen, aber der wollte nicht nach Hause gehen. Nach der Beerdigung, und was da sonst noch war, herrschte allgemeine Verlegenheit. Bis Mitternacht konnte man ständig Leute auf den Schiffen sehen, und alle haben hierhergeschaut. Und übrigens war im Tanzlokal wieder Betrieb. Man hört von der Schleuse aus die Musik. Die Schiffer haben alle noch ihre Sonntagsanzüge angehabt. Die Verrückte muss dann wohl endlich eingeschlafen sein, aber heute früh, es war noch nicht einmal richtig hell, ist sie schon
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