Maigret - 18 - Maigret in Nöten
war mindestens zwanzig Jahre alt. Der Abzug war schon halb verblichen, weil offenbar schlecht fixiert, man erkannte darauf die Züge einer jungen, schlanken Frau mit einem geheimnisvollen Lächeln, das an Alines Lächeln erinnerte.
Das war Gassins Frau, und es ließ sich leicht denken, dass sie in Schifferkreisen, wo alles so handfest zugeht, mit ihrer zarten Gesundheit und der Kraftlosigkeit, für die sie nichts konnte, sehr distinguiert gewirkt haben musste. Auch auf Ducrau, der mit ihr geschlafen hatte! An Bord, während Gassin im Café saß, oder in irgendeinem unwürdigen Stundenhotel?
Auf dem andern Foto war Jean Ducrau abgebildet, der Mann, der eben beerdigt worden war. Es war eine Amateuraufnahme. Er stand in weißer Hose auf Deck des Kahns. Auf die Rückseite hatte er geschrieben: Meiner kleinen Freundin Aline, die es vielleicht eines Tages wird lesen können, von ihrem großen Freund Jean.
Auch er war tot! Erhängt!
»So, so«, sagte Maigret.
»Haben Sie etwas gefunden?«
»Worte!«, sagte er nur und öffnete die Tür zur Zelle.
»Also, Gassin?«
Der Alte erhob sich von der Bank, auf der er saß, und Maigret runzelte die Stirn, als er ihn mit offenen Schuhen und offenem Kragen, ohne Krawatte, sah. Er rief den Sekretär.
»Wer hat das angerichtet?«
»Nun, üblicherweise …«
»Geben Sie ihm sofort seine Schnürsenkel und seine Krawatte zurück.«
Denn so hergerichtet sah der Schiffer dermaßen erbärmlich aus, dass das ganze Verfahren schon schwer nach Willkür oder böswilliger Erniedrigung aussah.
»Nehmen Sie Platz, Gassin! Hier sind Ihre Sachen, außer dem Revolver, versteht sich. Ist Ihre Alkoholtour vorbei? Sind Sie wieder voll bei Sinnen?«
Er setzte sich seinem Gesprächspartner gegenüber, die Ellbogen auf die Knie gestützt, während der Alte tief vorgebeugt seine Schnürsenkel wieder band.
»Sie werden nicht bestreiten, dass ich Sie nie schikaniert habe. Ich habe mich nie in Ihr Tun und Lassen eingemischt und Sie wie ein Loch saufen lassen. Lassen Sie das für den Moment, Sie können sich nachher fertig anziehen. Folgen Sie mir?«
Gassin hob den Kopf, und Maigret konstatierte, dass er sich vorhin vielleicht nur gebückt hatte, um ein komisches Lächeln zu verbergen.
»Warum wollen Sie Ducrau umbringen?«
Schon war das Lächeln von dem faltigen Seemannsgesicht verschwunden, und es drückte nun, Maigret zugewandt, nichts als vollkommene Ruhe aus.
»Bis jetzt habe ich niemanden getötet.«
War es nicht das erste Mal, dass er überhaupt sprach? Er tat es sehr gesetzt, mit dumpfer Stimme, wie sie ihm wohl einfach eigen war.
»Ich weiß. Aber Sie haben vor zu töten?«
»Vielleicht werde ich jemanden töten.«
»Ducrau?«
»Vielleicht ihn, vielleicht einen andern.«
Er war nicht betrunken, so viel war klar. Obwohl, getrunken hatte er. Oder aber das waren noch die Nachwehen seiner vorhergehenden Zechtouren. Bisher hatte er sich immer nur von seiner mürrischen Seite gezeigt; jetzt war er zu gefasst.
»Wozu haben Sie eine Waffe gekauft?«
»Und warum sind Sie in Charenton?«
»Ich sehe den Zusammenhang nicht.«
»Doch!«
Und da Maigret einen Augenblick schwieg, beeindruckt von dieser sprunghaften, schwindelerregenden Zusammenfassung:
»Mit dem Unterschied, dass Sie das eigentlich nichts angeht.«
Er nahm den zweiten Schnürsenkel und begann ihn, wieder hinabgebeugt, durch die Ösen in seinen Schuhen zu ziehen. Man musste schon die Ohren spitzen, damit einem nicht die Hälfte dessen entging, was er sagte, denn in seinem Gemurmel verhedderten sich die Silben. Vielleicht war es ihm egal, ob er verstanden wurde oder nicht? Vielleicht war es einfach ein letzter Monolog, den ein Betrunkener vor sich hin lallte?
»Vor zehn Jahren kam der Kapitän der ›Cormoran‹ zu einem schönen Haus in Chalons, in dem ein Arzt wohnte! Er hieß Louis. Nicht der Arzt, der Kapitän! Er war außer sich vor Freude und Ungeduld. Seine Frau, sie war dreißig, würde endlich ein Kind bekommen.«
Die Wände bebten leicht, wenn eine Straßenbahn vorbeifuhr, und man hörte die Türglocke eines nahegelegenen Geschäfts, in dem ständig Leute ein und aus gingen.
»Ein Kind, darauf hatten sie seit acht Jahren gewartet. Louis war bereit, alles dafür herzugeben, seine ganzen Ersparnisse. Er sucht also diesen Arzt auf, einen kleinen Braunhaarigen mit Brille, ich habe ihn gekannt. Er erklärt ihm, dass er Angst davor hat, das Kind in irgendeinem abgelegenen Kaff zur Welt kommen zu lassen, und dass er
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