Maigret - 31 - Mein Freund Maigret
in Ternes begegnet, und damals war sie schon kein Kind mehr. Wenn ich mich nicht täusche, muß sie längst über die Dreißig hinaus sein, und die Tuberkulose hat sie bestimmt nicht verjüngt. Sie muß jetzt …«
»Sie ist fünfundvierzig bis fünfzig.«
Und mit harmlosester Miene setzte Emil hinzu: »Sie leitet die ›Sirènes‹ in Nizza.«
Es war besser, jetzt Mr. Pyke nicht anzusehen, der sein Gesicht gewiß so ironisch verzog, wie seine gute Erziehung es ihm eben gestattete. War Maigret nicht rot geworden? Es war ihm jedenfalls bewußt, daß er jetzt äußerst lächerlich wirkte.
Schließlich hatte er damals den Samariter gespielt. Nachdem Marcellin ins Gefängnis gekommen war, hatte sich Maigret Ginettes angenommen und sie ganz wie in einem Kitschroman ›der Straße entrissen‹ und in ein Sanatorium einweisen lassen.
Er sah sie ganz deutlich wieder vor sich. Sie war erschreckend mager gewesen, hatte fiebrige Augen und einen müden Mund gehabt, daß es nicht zu verstehen war, wie sich Männer mit ihr hatten einlassen können.
Er hatte zu ihr gesagt:
›Sie müssen etwas für sich tun, mein Kind.‹
Und sie hatte gehorsam geantwortet:
›Das möchte ich auch gern, Herr Kommissar. Denken Sie, mir macht das Spaß?‹
Mit einem Anflug von Ungeduld fragte Maigret jetzt, Emil genau musternd:
»Sind Sie sicher, daß es sich um die gleiche Frau handelt? Damals war sie hochgradig schwindsüchtig.«
»Sie ist mehrere Jahre im Sanatorium gewesen.«
»Ist sie Marcellin treu geblieben?«
»Sie hat ihn kaum noch gesehen, wissen Sie. Sie ist sehr beschäftigt. Hin und wieder schickte sie ihm Geld. Keine großen Summen. Er brauchte nicht viel.«
Emil nahm aus einer Schachtel eine Eukalyptuspastille, die er langsam lutschte.
»Hat er sie in Nizza besucht?«
»Das glaube ich nicht. Es ist ein elegantes Haus. Sie kennen es sicher.«
»Ist Marcellin ihretwegen in den Süden gekommen?«
»Das weiß ich nicht. Er war ein merkwürdiger Kerl.«
»Ist Ginette zur Zeit in Nizza?«
»Sie hat uns heute früh aus Hyères angerufen. Sie hat in der Zeitung von dem Verbrechen gelesen und ist nach Hyères gefahren, um sich um das Begräbnis zu kümmern.«
»Wissen Sie, wo sie abgestiegen ist?«
»Im ›Hotel des Palmes‹.«
»Waren Sie an dem Abend des Mordes in der ›Arche‹?«
»Ich war kurz dort, um meinen Tee zu trinken.«
»Sind Sie vor Marcellin gegangen?«
»Bestimmt. Ich gehe nie nach zehn Uhr schlafen.«
»Haben Sie gehört, daß er von mir sprach?«
»Vielleicht. Ich habe nicht darauf geachtet. Ich bin etwas schwerhörig.«
»Wie sind Ihre Beziehungen zu Chariot?«
»Ich kenne ihn, aber ich verkehre nicht mit ihm.«
»Warum nicht?«
Emil versuchte offensichtlich etwas Delikates zu erklären.
»Es ist nicht die gleiche Welt, verstehen Sie?«
»Hat er nie für Ihre Mutter gearbeitet?«
»Es mag sein, daß er ihr hin und wieder Personal beschafft hat.«
»Hat er die Gesetze übertreten?«
»Ich glaube nicht.«
»Hat Ihnen Marcellin ebenfalls Personal beschafft?«
»Nein. Damit hat er sich nicht befaßt.«
»Wissen Sie sonst etwas?«
»Nicht das geringste. Ich kümmere mich um fast gar nichts mehr. Meine Gesundheit erlaubt mir das nicht.«
Was mochte Mr. Pyke von all dem denken? Gab es in England auch solche Emils?
»Ich werde vielleicht Ihre Mutter kurz aufsuchen.«
»Sie werden uns immer willkommen sein, Herr Kommissar.«
Lechat war wieder draußen, diesmal in Begleitung eines jungen Mannes in weißer Flanellhose, blaukarierter Jacke und Schiffsmütze.
»Monsieur Philippe de Moricourt«, meldete er. »Er ist gerade mit dem Ruderboot herübergekommen.«
»Sie möchten mich sprechen, Herr Kommissar?« Er war ein Mann in den Dreißigern und sah entgegen dem, was man hätte vermuten können, nicht sonderlich gut aus.
»Ich nehme an, das ist eine Formalität.«
»Setzen Sie sich.«
»Muß das sein? Ich sitze so ungern.«
»Dann bleiben Sie stehen. Sie sind der Sekretär von Mrs. Wilcox?«
»Nun, die Bezeichnung stimmt nicht ganz. Sagen wir lieber, ich bin ihr Gast und aus Freundschaft gelegentlich für sie als Sekretär tätig.«
»Schreibt Mrs. Wilcox ihre Memoiren?«
»Nein. Warum fragen Sie mich das?«
»Ist sie für ihre Whisky-Fabrik selber tätig?«
»Nicht im geringsten.«
»Schreiben Sie ihre persönlichen Briefe?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie damit hinauswollen?«
»Auf gar nichts, Monsieur Moricourt.«
»De Moricourt.«
»Bitte, wenn Ihnen soviel daran
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