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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Zeit, sondern Tag für Tag. Er begann am Morgen und hörte bis zum Abend nicht mehr auf. Er trank so viel, daß er in der Wärme eines Zimmers einen Alkoholdunst verbreitete, von dem mir fast übel wurde.
    Außerdem sah er ungepflegt aus. Man könnte sogar sagen, schmutzig.
    Wie er unter diesen Umständen mit meinem Vater befreundet sein konnte, blieb für mich ein Rätsel. Und doch kam er abends häufig zu uns, um mit meinem Vater zu plaudern; ja es war längst zu einem Ritual geworden, daß man bei seinem Erscheinen zum Büfett ging und aus der Vitrine eine kleine Schnapsflasche holte, die nur seinetwegen dort stand.
    Vom ersten Drama habe ich damals kaum etwas gewußt. Gadelles Frau hatte ein Kind erwartet, es mußte das sechste oder siebente gewesen sein. In meinen Augen war sie schon eine alte Frau gewesen, aber vermutlich zählte sie erst etwa vierzig Jahre.
    Was hat sich an dem Tag, da sie niederkam, wirklich abgespielt? Man munkelt, Gadelle sei betrunkener denn je nach Hause gekommen und habe in all der Zeit, da er am Bett seiner Frau auf die Geburt wartete, weitergetrunken.
    Das Warten dauerte jedoch länger als üblich. Die Kinder waren bei Nachbarn untergebracht worden. Als sich gegen Morgen immer noch nichts ereignete, ging die Schwägerin, die über Nacht bei der Wöchnerin geblieben war, nach Hause, um dort nach dem Rechten zu sehen.
    Es heißt, man habe aus dem Doktorhaus Schreie, dann Lärm und Gepolter gehört.
    Als man nachsehen ging, saß Gadelle weinend in einer Ecke. Seine Frau war tot. Das Kind auch.
    Und noch lange danach sollte ich die Klatschweiber dabei ertappen, wie sie mit empörter oder entsetzter Miene einander ins Ohr flüsterten:
    »Eine wahre Schlächterei!«
     
    Während Monaten gab es einen Fall Gadelle, um den sich jedes Gespräch drehte und der, wie nicht anders zu erwarten war, die Bevölkerung in zwei Lager spaltete.
    Einige – und es waren viele – fuhren in die Stadt, was damals einer wahren Expedition gleichkam, und suchten einen anderen Arzt auf, während ein paar andere, ungerührt oder trotz allem vertrauensvoll, den bärtigen Doktor riefen, wenn sie ihn brauchten.
    Mein Vater hat mir nie verraten, was er dachte. Ich bin daher auf Vermutungen angewiesen.
    Sicher ist, daß Gadelle nie aufhörte, uns zu besuchen. Wie eh und je kam er auf seiner Runde zu uns ins Haus, und es blieb beim Brauch, die berühmte Karaffe mit dem Goldrand vor ihn hinzustellen.
    Allerdings trank er weniger. Es hieß, man sähe ihn nie mehr betrunken. Eines Nachts wurde er in das entlegenste Pächterhaus zu einer Entbindung gerufen, und er entledigte sich seiner Aufgabe mit Bravour. Auf dem Heimweg kam er bei uns vorbei. Ich weiß noch, wie bleich er war und wie mein Vater ihm die Hand drückte, fester, als es sonst seine Art war, wie um ihm Mut zu machen, wie um ihm zu sagen: »Sie sehen, es ist nicht hoffnungslos.«
    Denn mein Vater verzweifelte nie an den Menschen. Ich habe ihn nie ein endgültiges Urteil fällen hören, nicht einmal an dem Tag, da das schwarze Schaf unter den Schloßpächtern, ein großmäuliger Kerl, meinen Vater irgendwelcher unsauberer Machenschaften bezichtigte, weil dieser ihn beim Schloßherrn wegen Veruntreuung hatte anzeigen müssen.
    Sicher ist auch, daß der Doktor ein verlorener Mann gewesen wäre, wenn nach dem Tod seiner Frau und des Kindes niemand dagewesen wäre, der ihm die Hand gereicht hätte.
    Mein Vater hat es getan. Und als meine Mutter schwanger wurde, zwang ihn ein Gefühl, das ich nur schwer erklären kann, das ich jedoch verstehe, den Weg bis zu Ende zu gehen.
    Er hat Vorsichtsmaßnahmen getroffen, gewiß. In den letzten Monaten der Schwangerschaft ist er zweimal mit meiner Mutter nach Moulins gefahren, um sie von einem Spezialisten untersuchen zu lassen.
    Dann war ihre Zeit gekommen. Ein Stallknecht ritt mitten in der Nacht ins Dorf und holte den Arzt. Sie hatten mich nicht aus dem Haus geschickt. Ich blieb in meinem Zimmer hinter verschlossener Tür und war entsetzlich aufgeregt, obschon ich wie jeder Junge vom Land frühzeitig erfahren hatte, wie diese Dinge sich abspielen.
    Meine Mutter starb um sieben Uhr morgens, als es zu dämmern begann, und das erste, was ich beim Herunterkommen trotz meiner Verwirrung wahrnahm, war die Karaffe auf dem Eßtisch.
    Ich blieb einziges Kind. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft kam zu uns, um den Haushalt zu besorgen und sich um mich zu kümmern. Seither habe ich Doktor Gadelle nie mehr unsere Schwelle betreten

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