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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ihm aufbewahrt. Er war sehr groß, sehr mager, und seine Magerkeit wurde noch betont durch enganliegende Hosen und Ledergamaschen, die bis zu den Knien reichten. Immer habe ich meinen Vater in Ledergamaschen gesehen. Sie waren gewissermaßen seine Uniform. Er trug keinen Bart, wohl aber einen langen rotblonden Schnurrbart, in dem ich an Winterabenden, wenn er nach Hause kam und mich küßte, kleine Eiskristalle spürte.
    Unser Haus stand im Schloßhof. Es war ein hübsches einstöckiges Haus aus rosafarbenem Backstein und es überragte die niedrigen Gebäude, in denen mehrere Familien von Handwerkern, Pferdeknechten, Flurwächtern wohnten. Deren Frauen arbeiteten zumeist als Wäscherinnen, Näherinnen oder Küchenmädchen im Schloß.
    In diesem Hof war mein Vater so etwas wie ein Souverän. Die Männer nahmen respektvoll die Mützen ab, wenn er mit ihnen sprach.
    Ungefähr einmal wöchentlich fuhr er bei Einbruch der Nacht, bisweilen schon am frühen Abend mit einem oder mehreren Pächtern in der zweirädrigen Kutsche weg, um auf irgendeinem entlegenen Markt Vieh zu kaufen oder zu verkaufen. Von diesen Fahrten kehrte er meist erst am Abend des nächsten Tages zurück.
    Sein Büro befand sich in einem anderen Gebäude. An den Wänden hingen Fotografien von preisgekrönten Ochsen und Pferden, die Marktkalender sowie fast immer die schönste Garbe der letzten Getreideernte, die im Lauf des Jahres langsam verdorrte.
    Gegen zehn Uhr überquerte er den Hof und betrat eine andere Welt. Er schritt um die letzten Vorbauten herum, erreichte die große Freitreppe, auf die kein Bauer jemals den Fuß setzte, und verschwand danach für längere Zeit hinter den dicken Schloßmauern.
    Es war für ihn im Grunde das, was der Morgenrapport am Quai für uns bedeutet, und als Kind war ich stolz, ihn kerzengerade, ohne eine Spur von Unterwürfigkeit die Stufen dieser prunkvollen Treppe hinaufgehen zu sehen.
    Er sprach wenig, und es kam selten vor, daß er lachte, aber wenn es geschah, war man überrascht, ein so jungenhaftes, fast kindliches Lachen an ihm zu entdecken und zu sehen, wie sehr er sich über harmlose Scherze amüsieren konnte.
    Im Gegensatz zu den meisten Leuten, die ich kannte, trank er nicht. Bei jeder Mahlzeit stand eine kleine Karaffe vor ihm, die nur für ihn reserviert und zur Hälfte mit einem leichten Weißwein aus dem Schloßgut gefüllt war, und nie habe ich ihn etwas anderes trinken sehen, nicht einmal an Hochzeiten oder Begräbnissen. Wenn er auf seinen Marktfahrten in Gasthäusern einkehren mußte, bekam er jeweils ohne zu fragen eine Tasse Kaffee vorgesetzt, denn Kaffee trank er für sein Leben gern.
    Er war in meinen Augen ein Mann, ein älterer Mann sogar. Ich war fünf Jahre alt, als mein Großvater starb. Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten über fünfzig Kilometer weit von uns entfernt, und wir fuhren nur zweimal im Jahr hin, weshalb ich sie kaum kannte. Sie waren keine Bauern. Sie besaßen in einem ansehnlichen Marktflecken ein Lebensmittelgeschäft, dem eine kleine Gastwirtschaft angegliedert war, wie es auf dem Land oft der Fall ist.
    Ich will nicht behaupten, das sei nicht der Grund gewesen, weshalb wir zu diesem Zweig der Familie keine engeren Beziehungen unterhielten.
    Ich war noch keine acht Jahre alt, als ich eines Tages merkte, daß meine Mutter schwanger war. Aus zufällig aufgeschnappten Bemerkungen und allerhand Getuschel konnte ich mehr oder weniger erraten, daß es sich um ein unerwartetes Ereignis handelte. Die Ärzte, hieß es, hätten nach meiner Geburt verkündet, weitere Schwangerschaften seien unwahrscheinlich.
    All das habe ich eigentlich erst später rekonstruiert, Stück für Stück, wie man es mit Kindheitserinnerungen zu tun pflegt.
    Zu jener Zeit gab es im benachbarten Dorf, das größer war als das unsere, einen Arzt mit einem roten Spitzbart. Man nannte ihn Gadelle – Victor Gadelle, wenn ich nicht irre –, und es wurde viel über ihn geredet, meist mit geheimnisvoller Miene, und vielleicht lag es an seinem Bart, vielleicht auch an all den Dingen, die über ihn gesagt wurden, daß ich drauf und dran war, ihn für einen Teufel zu halten.
    In seinem Leben gab es eine Tragödie, eine echte Tragödie, die erste, die ich kennenlernen sollte, und sie beeindruckte mich umso mehr, als sie auf meine Familie und infolgedessen auf mein ganzes Leben einen entscheidenden Einfluß hatte.
    Gadelle trank. Er trank mehr als jeder Bauer in der Gegend und zwar nicht etwa nur von Zeit zu

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