Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
zum anderen hören konnte.
Glücklicherweise hielt er sich nicht oft im Büro auf. Er war so unvorsichtig gewesen, eines Tages, als von seinem Husten die Rede war, zu sagen:
»Der Arzt empfiehlt mir viel Bewegung in der frischen Luft.«
Danach war es um ihn geschehen. Er hatte lange Beine und große Füße, und immer war es Lagrume, dem die unwahrscheinlichsten Nachforschungen in Paris übertragen wurden, die, die einen zwingen, die Stadt nach allen Richtungen abzusuchen, Tag für Tag, ohne jede Hoffnung auf ein Ergebnis.
»Lagrume kann das machen.«
Jeder wußte, was das hieß, jeder außer dem guten Lagrume. Ernsthaft notierte er sich ein paar Hinweise, klemmte dann den gerollten Regenschirm unter den Arm, nickte in die Runde und verschwand.
Heute frage ich mich, ob er seine Rolle nicht ganz bewußt spielte. Er hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. Daheim in seinem Vorstadthäuschen wartete eine seit Jahr und Tag kranke Frau nur darauf, daß er abends zurückkehrte und den Haushalt besorgte. Und als seine Tochter heiratete, da war es vermutlich wieder Lagrume, der nachts aufstand, um den Säugling zu wickeln.
»Lagrume, du riechst wieder einmal nach Kinderkacke!«
Eine alte Frau war in der Rue Caulaincourt ermordet worden. Ein alltägliches Verbrechen. Die Zeitungen machten wenig Aufhebens davon, das Opfer war ja nur eine kleine Rentnerin ohne Familienanhang gewesen.
Fälle wie diese sind fast immer die schwierigsten. Da ich in die großen Warenhäuser verbannt und in jenen Vorweihnachtstagen vollauf beschäftigt war, brauchte ich mich nicht darum zu kümmern, aber wie jedermann am Quai war ich mit allen Einzelheiten der Fahndung vertraut.
Der Mord war mit einem Küchenmesser begangen worden. Das Messer war am Tatort liegengeblieben. Es bildete das einzige Indiz. Es war ein ganz gewöhnliches Messer, wie man es in den Eisenwarenhandlungen, Basaren, den schäbigsten Quartierbuden kaufen kann, und der Hersteller, den man aufgestöbert hatte, erklärte, er hätte allein in der Pariser Region schon Zehntausende solcher Messer verkauft.
Es war neu. Jemand hatte es offensichtlich zu diesem Zweck gekauft. Auf dem Griff stand noch der Kaufpreis mit unauslöschbarem Tintenstift angeschrieben.
Dieses Detail gab Anlaß zu einer schwachen Hoffnung, den Händler zu finden, der das Messer verkauft hatte.
»Lagrume, gehen Sie der Sache nach!«
Er wickelte das Beweisstück in Zeitungspapier, steckte es in die Tasche und ging.
Er ging und ging, kreuz und quer durch Paris, volle neun Wochen lang. Jeden Morgen erschien er pünktlich im Büro und am Abend kehrte er zurück und schloß das Messer in einem Schubfach ein. Jeden Morgen sah man ihn die Mordwaffe wieder einstecken, den Schirm ergreifen und mit dem gleichen Kopfnicken in die Runde aus der Tür gehen.
Es war mir bekannt – denn die Geschichte ist legendär geworden –, wie viele Händler ein Messer dieser Art verkauft haben konnten. Ohne die Vororte mitzurechnen, allein in den zwanzig Arrondissements der Pariser Innenstadt kommt man auf eine schwindelerregende Zahl.
Das Benutzen irgendwelcher Transportmittel kam nicht in Frage. Lagrume mußte Straße um Straße, ja fast Tür um Tür abklopfen. Er hatte einen Stadtplan in der Tasche, auf dem er am Ende jeder Stunde eine bestimmte Anzahl Straßen abhakte.
Ich glaube, seine eigenen Vorgesetzten wußten am Ende nicht mehr, mit welchem Fall er sich beschäftigte.
»Ist Lagrume frei?«
Jemand antwortete, er sei dienstlich unterwegs, und danach kümmerte sich kein Mensch mehr um ihn. Das war, wie gesagt, kurz vor den Feiertagen. Der Winter war naß und kalt, das Straßenpflaster ein einziger Matsch, dennoch führte Lagrume seine Bronchitis, seinen hohlen Husten von früh bis spät spazieren, ohne zu erlahmen, ohne sich zu fragen, ob das Ganze einen Sinn hatte.
In der neunten Woche – Neujahr war längst vorbei, und ein klirrender Frost hatte eingesetzt – erschien er um drei Uhr nachmittags im Büro, gelassen und düster wie immer, ohne einen Funken von Freude oder Erleichterung in den Augen.
»Ist der Chef da?«
»Wieso? Glück gehabt?«
»Glück gehabt.«
Nicht in einer Eisenwarenhandlung, nicht in einem Basar, auch nicht in einem Haushaltgeschäft. Die hatte er alle umsonst ›gemacht‹.
Das Messer war von einem Schreibwarenhändler am Boulevard Rochechouart verkauft worden. Der Händler erkannte seine Schrift wieder, erinnerte sich, daß zwei Monate zuvor ein junger Mann mit grünem Schal die
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