Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
abends überhaupt essen wollte, würde er vorher unbedingt einen Coup landen müssen.
Er wiederum wußte von meinen hundert Francs im Monat, meinen zerlöcherten Schuhen und meiner Frau, die zu Hause ungeduldig auf mich wartete.
Ich habe den Burschen mindestens zehnmal festgenommen, ganz friedlich, indem ich zu ihm sagte:
»Du bist geliefert, Junge.«
Und er war fast so erleichtert wie ich. Es bedeutete, daß er auf der Polizeiwache Essen bekommen und nachts ein Dach überm Kopf haben würde. Einige dieser Burschen kennen das Haus so gut, daß sie fragen:
»Wer hat Dienst heute nacht?«
Weil die einen sie rauchen lassen, andere nicht.
Während eineinhalb Jahren habe ich die Straßen als idealen Aufenthaltsort betrachtet, denn nach dem Streifendienst hatte man mich in die großen Warenhäuser abkommandiert.
Statt im Regen, in der Kälte, im Sonnenschein, im Straßenstaub habe ich meine Tage in einer überhitzten Luft verbracht, in den Gerüchen von Kammgarn, Baumwolle, Linoleum und Zwirn.
In den Gängen zwischen den einzelnen Abteilungen waren damals an bestimmten Stellen sogenannte Warmluftschächte angebracht, die einem von unten her trockene, glutheiße Luft ins Gesicht jagten. Das war schön und gut, wenn man durchnäßt hereinkam. Dann blieb man einfach über einem dieser Schächte stehen und begann sogleich eine Dampfwolke zu verbreiten.
Nach ein paar Stunden aber lungerte man lieber in der Nähe der Türen umher, weil sie jedesmal, wenn sie sich öffneten, etwas Sauerstoff hereinließen.
Es kam darauf an, daß man sich ganz natürlich gab. Daß man wie irgendein Kunde aussah. Leicht gesagt, nicht wahr, wenn eine ganze Etage aus einem einzigen Haufen von Korsetts, Damenwäsche oder Seidenspulen besteht.
»Folgen Sie mir bitte, ohne Aufsehen zu erregen!«
Einige begriffen sofort, kamen wortlos mit ins Direktionsbüro. Andere taten entrüstet, antworteten mit schriller Stimme oder kriegten eine Nervenkrise.
Und doch hatten wir es auch hier mit Stammkunden zu tun. Ob im Bon Marché, im Louvre oder im Printemps, überall traf man gute alte Bekannte an, meist Frauen mittleren Alters, die unvorstellbare Mengen von Waren aller Art in eine zwischen Kleid und Unterrock genähte Tasche stopften.
Eineinhalb Jahre. Im Rückblick kommt es mir als eine kurze Spanne Zeit vor. Damals aber war für mich jede Stunde so lang wie eine Stunde im Wartezimmer eines Zahnarztes.
»Bist du am Nachmittag in den Galeries?« fragte mich manchmal meine Frau. »Ich muß mir dort ein paar Kleinigkeiten besorgen.«
Wir sprachen nicht miteinander. Wir taten, als kennten wir einander nicht. Es war ein wunderbares Gefühl. Es machte mich glücklich, sie stolz von Rayon zu Rayon schlendern zu sehen und ab und zu einen verstohlenen Blick von ihr aufzufangen.
Ich glaube nicht, daß auch sie sich jemals gefragt hat, ob sie etwas anderes als einen Polizeiinspektor hätte heiraten können. Sie kannte die Namen aller meiner Kollegen, sprach von Menschen, die sie nie gesehen hatte, von ihren Gewohnheiten, Erfolgen oder Mißerfolgen, als wären sie alte Bekannte.
Es hat Jahre gedauert, ehe ich mich an einem Sonntag, als ich Dienst hatte, entschloß, ihr das berühmte Haus am Quai des Orfèvres vorzuführen, und sie hat keinerlei Erstaunen gezeigt. Sie bewegte sich wie in ihren eigenen vier Wänden, hielt suchend Ausschau nach all den Dingen, die sie so gut vom Hörensagen kannte.
Ihre einzige Reaktion war:
»Es ist gar nicht so schmutzig, wie ich dachte.«
»Warum sollte es hier schmutzig sein?«
»In Räumen, wo nur Männer leben, ist es nie sehr sauber. Und es riecht anders.«
Die Polizeiwache, wo sie in Sachen Gerüche auf ihre Rechnung gekommen wäre, habe ich ihr nicht gezeigt.
»Wer sitzt an dem Platz dort links?«
»Torrence.«
»Der Dicke? Das hätte ich mir denken können. Er ist wie ein Schuljunge. Vergnügt sich immer noch damit, seine Initialen in die Tischplatte zu ritzen.
Und Papa Lagrume, der soviel gelaufen ist?«
Und da ich schon von Schuhen gesprochen habe, kann ich auch noch die Geschichte erzählen, die meine Frau so gerührt hat.
Lagrume – Papa Lagrume, wie wir ihn nannten – war unser Ältester, obgleich er es nie weiter als bis zum Inspektor gebracht hatte. Er war ein baumlanger, melancholischer Mann. Im Sommer litt er an Heuschnupfen, und von den ersten kalten Tagen anäußerte sich seine chronische Bronchitis in einem hohlen Husten, den man von einem Ende der Räumlichkeiten der Kriminalpolizei bis
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