Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
wenigen Minuten. Nur noch hundert Meter laufen, nur noch die Fahrkarte vorweisen, die man mit feuchten Fingern umklammert! Die Zeiger schieben sich ruckartig vor auf dem riesigen gelblichen Zifferblatt der Bahnhofsuhr.
Alles oder nichts! Freiheit oder Zuchthaus. Oder Schlimmeres.
Und da stehe ich. Und habe in meiner Brieftasche ein Foto oder ein Signalement, manchmal auch nur die technische Beschreibung eines Ohrs.
Es kann geschehen, daß man sich im gleichen Moment erkennt, daß die Blicke aufeinanderprallen. Meist weiß der andere sofort Bescheid.
Das Folgende hängt von seinem Charakter ab, vom Risiko, das er eingeht, von seinen Nerven, von einem winzigen materiellen Detail, einer offenen oder geschlossenen Tür, einem Koffer, der zufällig zwischen uns steht.
Einige suchen ihr Heil in der Flucht, und dann hebt eine Hetzjagd an durch Gruppen von protestierenden oder schutzsuchenden Reisenden, durch wartende Waggons, über Geleise und Weichen.
Ich habe zwei Männer gekannt – der eine war noch blutjung –, die im Abstand von drei Monaten auf die genau gleiche Weise reagierten.
Beide steckten die Hand in die Tasche, wie um nach einer Zigarette zu greifen. Und gleich darauf, mitten in der Menge, den Blick starr auf mich gerichtet, jagten sie sich eine Kugel durch den Kopf.
Auch diese beiden nahmen mir nichts übel, so wie ich ihnen nichts übelnahm.
Jeder von uns tat seine Arbeit.
Sie hatten die Partie verloren, Punkt, und sie gaben auf.
Auch ich hatte verloren, denn meine Rolle erforderte, daß ich sie lebend vor den Richter brachte.
Ich habe Tausende von Zügen abfahren sehen. Ich habe Tausende ankommen sehen, immer mit dem gleichen Menschenhaufen, dem gleichen langen Rosenkranz von Menschen, die Gott weiß wohin hasteten.
Es ist bei mir wie auch bei meinen Kollegen nachgerade ein Tick geworden. Selbst wenn ich nicht im Dienst bin, selbst wenn das Wunder geschieht und ich mit meiner Frau in den Urlaub fahre, gleitet mein Blick prüfend über die Gesichter, und es passiert selten, daß er nicht an jemandem hängenbleibt, der Angst hat, wie immer er sie auch zu verbergen trachtet.
»Warum kommst du nicht? Was ist mit dir?«
Bis wir uns im Abteil häuslich niedergelassen haben, was sage ich, bis der Zug abgefahren ist, kann meine Frau nie sicher sein, daß aus dem Urlaub auch wirklich etwas wird.
»Was geht es dich an? Du bist jetzt nicht im Dienst!«
Ich habe mich schon dabei ertappt, wie ich ihr seufzend gefolgt bin, nachdem ich mich ein letztes Mal nach einem rätselhaften Gesicht umgedreht und es dann in der Menge aus den Augen verloren habe. Immer mit einem Gefühl des Bedauerns.
Und ich* glaube nicht, daß dies nur eine Sache des beruflichen Instinkts oder des Gerechtigkeitsempfindens ist.
Ich wiederhole, es ist eine Partie, die gespielt wird, eine Partie ohne Ende. Wer damit begonnen hat, kommt kaum oder überhaupt nie mehr davon los.
Das beweisen diejenigen unter uns, die endlich und oft unfreiwillig in den Ruhestand getreten sind und dann meist ein eigenes Detektivbüro eröffnen.
Dabei ist dies nur ein letzter Ausweg. Mag einer auch dreißig Jahre lang über das elende Leben eines Polizeibeamten geflucht haben, es gibt meines Wissens keinen, der nicht noch so gern wieder Dienst täte, und wäre es unentgeltlich.
Mit der Gare du Nord verbinden mich nur düstere Erinnerungen. Ich weiß nicht warum, aber ich sehe den Bahnhof immer im feuchten, klebrigen Nebel der frühen Morgenstunden, voll unausgeschlafener Menschenmassen, die in Herden zu den Bahnsteigen oder zum Ausgang an der Rue de Maubeuge trotten.
Ich bin dort den hoffnungslosesten menschlichen Existenzen begegnet, und manche Verhaftung hat mir hinterher eher Gewissensbisse als Genugtuung bereitet.
Und doch, wenn ich die Wahl hätte, ich würde lieber wieder meinen Posten am Eingang zu den Bahnsteigen beziehen, als von einem prunkvolleren Bahnhof aus in ein sonniges Nest an der Côte d’Azur fahren.
6
Stockwerke, Stockwerke und immer noch mehr Stockwerke!
Dann und wann, fast immer im Zusammenhang mit politischen Spannungen, brechen in den Straßen Unruhen aus, hinter denen mehr als nur die Unzufriedenheit des Bürgers steckt. Es ist, als klaffte plötzlich ein Riß, als würden unsichtbare Schleusen geöffnet. Dann kann man in den Quartieren der Reichen unvermittelt Lebewesen auftauchen sehen, von denen man dort nicht einmal gewußt hat, daß es sie gibt. Sie scheinen einem Gauner- und Bettlerasyl des Mittelalters entsprungen
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