Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
genügt, und ich wäre wahrscheinlich mit einem gewissen Respekt behandelt worden.
Ich habe es nicht getan. Nicht unbedingt aus Gerechtigkeitsempfinden. Auch nicht aus Mitleid.
Vielleicht, weil es ein Spiel war, das ich nicht mitspielen wollte. Lieber gab ich vor, ich hätte nichts gehört. Ich hoffte, sie würden von selbst aufhören. Aber diese Geschöpfe sind wie Kinder, die von einem Spaß nie genug bekommen können.
Der berühmte Jules wurde prompt in ein Chanson eingebaut, das sie, sobald ich auftauchte, sofort zu singen oder eher noch zu grölen begannen. Andere sagten zu mir, wenn ich ihre Ausweise prüfte:
»Sei kein Ekel, Jules! Du bist ja so süß!«
Die ärmste Louise! Was sie am meisten fürchtete, war nicht, daß ich einer Versuchung erliegen würde, sondern daß ich ihr eine widerliche Krankheit ins Haus schleppte. Flöhe hatte ich bereits aufgelesen. Beim Nachhausekommen mußte ich mich immer gleich ausziehen und baden, während sie auf dem Treppenabsatz oder am offenen Fenster meine Kleider ausbürstete.
»Was du nur wieder angefaßt hast, heute! Bürste dir gründlich die Fingernägel!«
Wurde nicht behauptet, man könne nur schon von einem Trinkglas die Syphilis bekommen?
Nein, es ist nicht angenehm gewesen, aber ich habe gelernt, was ich zu lernen hatte. Und schließlich hatte ich mir diesen Beruf selber ausgesucht, nicht wahr?
Versetzen lassen hätte ich mich um nichts in der Welt. Meine Vorgesetzten taten von sich aus, was zu tun war – wohl eher des besseren Ertrags wegen als aus Sorge um mich.
Ich wurde in die Bahnhöfe abkommandiert. Genauer, in ein düsteres, unheimliches Gebäude, das sich die Gare du Nord nennt.
Es hatte denselben Vorteil wie die Warenhäuser: Man war vor dem Regen geschützt. Nicht vor der Kälte, nicht vor dem Wind, denn es gibt wohl nirgends auf der Welt soviel Zugluft wie in einer Bahnhofshalle, wie in der Halle der Gare du Nord, und monatelang habe ich mit meinem Dauerkatarrh dem alten Lagrume Konkurrenz gemacht.
Man soll ja nicht denken, ich werde jetzt zu jammern anfangen und mit rachsüchtigem Behagen die Kehrseite des Polizeiberufs schildern.
Ich war vollkommen glücklich. Ich war glücklich, als ich durch die Straßen patrouillierte, und ich war es nicht minder, als ich die sogenannten Kleptomanen in den Warenhäusern beschattete.
Ich spürte, daß ich von Mal zu Mal eine Stufe höherstieg, daß ich ein Handwerk erlernte, dessen Vielseitigkeit ich jeden Tag besser erkannte.
Wenn ich zum Beispiel die Gare de l’Est sehe, so fühle ich mich jedesmal deprimiert, weil dieser Bahnhof an Mobilmachungen erinnert. Umgekehrt läßt mich die Gare de Lyon wie auch die Gare Montparnasse immer an Ferien denken.
Die Gare du Nord dagegen, der kälteste, geschäftigste Bahnhof von Paris bringt mir nichts anderes zum Bewußtsein als den harten und bitteren Kampf um das tägliche Brot. Vielleicht weil ihre Schienen zu den Kohlengruben und Fabriklandschaften führen?
Mit den ersten Nachtzügen aus Belgien und Deutschland treffen in der Frühe meist ein paar Schmuggler, ein paar Schieber ein, mit Gesichtern so hart wie das Tageslicht, das durch die Wagenfenster fällt.
Nicht immer sind es nur kleine Fische. Es gibt unter ihnen auch illegale Händler von internationalem Format mit ihren Agenten, Strohmännern, Helfershelfern, Männer, die mit hohen Einsätzen spielen und sich mit allen Mitteln zu verteidigen wissen, wenn’s darauf ankommt.
Diese Menge hat sich noch kaum verlaufen, da folgen schon die Vorortzüge. Sie kommen nicht aus den sonnigen Dörfern im Westen oder Süden, sondern aus verrußten, unhygienischen Agglomerationen.
In die umgekehrte Richtung, nach Belgien, der am nächsten liegenden Grenze, versuchen alle jene zu entkommen, die aus den verschiedensten Gründen auf der Flucht sind.
Hunderte warten in dem trüben Bahnhofgrau, das nach Rauch und Schweiß riecht, warten aufgeregt, laufen von den Schaltern zur Gepäckhalle, studieren die Tafeln mit den Ankunfts- und Abfahrtszeiten, essen, trinken, mitten unter Kindern, Hunden, Koffern, und fast immer sind es Menschen, die nicht genug geschlafen haben, die nervös sind aus lauter Angst, sich zu verspäten, oder einfach aus Angst vor dem Morgen, das sie woanders suchen gehen.
Stundenlang, tagelang habe ich sie beobachtet, unter all den Gesichtern eines gesucht, das verschlossener war, starrer blickte, das Gesicht eines Menschen, der seine letzte Karte ausspielt.
Der Zug steht da. Er fährt in
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