Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
zu sein, und wenn sie an den Fenstern vorbeiziehen, schaut man ihnen nach, als wären die Halsabschneider und Hurenknechte vergangener Zeiten wiederauferstanden.
Als wir nach dem Aufruhr vom 6. Februar jenen gewalttätigen Ausbruch erlebten, wunderte ich mich am meisten über das Erstaunen, das der größte Teil der Tagespresse am nächsten Morgen bekundete. Sogar Leute, die mit den Schattenseiten einer Großstadt berufshalber fast so vertraut waren wie wir, erschreckte diese mehrere Stunden währende Invasion des Pariser Stadtzentrums, denn was da marschierte, das waren nicht mehr Demonstranten, es waren ausgemergelte Gestalten, die soviel Entsetzen verbreiteten wie ein Rudel Wölfe.
Paris hat an jenem Tag wirklich Angst gehabt. Aber schon am nächsten Tag, als wieder Ordnung herrschte, hatte Paris vergessen, daß das Gesindel nicht etwa ausgerottet war, sondern sich lediglich in seine Schlupfwinkel verkrochen hatte.
Und dafür, daß es dort bleibt, hat schließlich die Polizei zu sorgen, nicht wahr?
Wer weiß denn schon, daß eine Sondereinheit der Polizei sich ausschließlich mit den zwei- bis dreihunderttausend Nordafrikanern, Portugiesen und Rumänen befaßt, die im 20. Arrondissement wohnen oder vielmehr kampieren, die unsere Sprache kaum oder überhaupt nicht verstehen, die anderen Gesetzen, anderen Instinkten gehorchen als wir?
Am Quai des Orfèvres haben wir Stadtpläne, auf denen mit Farbstift kleine Inseln eingezeichnet sind: die Juden in der Rue des Rosiers, die Italiener im Rathaus-Quartier, die Russen an der Place des Ternes und in Denfert-Rochereau …
Viele wollen nichts weiter als sich assimilieren, und mit ihnen hat man keinerlei Schwierigkeiten. Aber es gibt unter ihnen auch Randfiguren, die einzeln oder gruppenweise ein von der breiten Masse unbemerktes rätselhaftes Dasein fristen.
»Ekelt es Sie nicht manchmal an?«
Fast immer sind es redliche Bürger, die so fragen, und ich weiß, was dieses Zucken um ihre Lippen bedeutet, ich weiß von ihren sorgfältig getarnten kleinen Heucheleien, ihren schmierigen kleinen Geheimnissen.
Sie sprechen nicht von diesem oder jenem besonderen Fall. Sie sprechen von der Gesamtheit der Übeltäter, mit denen wir uns zu befassen haben. Was sie im Grunde möchten, ist, daß wir möglichst widerliche Einzelheiten, unerhörte Laster, eine ganze lausige Misere vor ihnen ausbreiten, damit sie sich darüber entrüsten können, während sie sich insgeheim daran weiden.
Sie gebrauchen mit Vorliebe das Wort ›Unterwelt‹.
»Sie kriegen in der Unterwelt wohl allerhand zu sehen, wie?«
Ich ziehe es vor, ihre Fragen nicht zu beantworten. Ich blicke sie nur an, ausdruckslos, und offenbar verstehen sie, was damit gemeint ist, denn meist machen sie verlegene Gesichter und fragen nicht weiter.
Ich habe im Streifendienst viel gelernt. Ich habe auf den Jahrmärkten gelernt, in den Warenhäusern, überall, wo Massen sich ansammelten.
Ich habe auch von meinen Erfahrungen in der Gare du Nord berichtet.
Doch wirklich gesehen habe ich die Menschen erst in der Zeit, da ich bei der Fremdenpolizei arbeitete, und zwar eben die Menschen, die den Bewohnern der vornehmen Quartiere einen solchen Schreck einjagen, wenn zufällig die Schleusen geöffnet werden.
Nagelschuhe brauchte man hier nicht mehr. Es ging ja weniger darum, kilometerweite Gehsteigstrecken abzuschreiten, als sozusagen Höhenunterschiede zu bewältigen.
Tag für Tag überprüfte ich die Meldeformulare in Dutzenden, Hunderten von Hotels, Fremdenpensionen zumeist, wo es keinen Fahrstuhl gab, so daß einem nichts übrigblieb, als sechs, sieben Etagen hochzusteigen, in stickigen Treppenschächten, umgeben von einem Armeleutegeruch, der einem die Kehle zuschnürte.
Ich weiß, auch die großen Hotels mit ihren von livrierten Portiers bewachten Drehtüren haben ihre Dramen. Und auch in ihre Geheimnisse steckt die Polizei jeden Tag die Nase.
Aber es sind vor allem die Tausende von namenlosen Absteigequartieren, die man von außen kaum beachtet, wo ein unbeständiges, anderswo schwer zu fassendes und meist dubioses Völkchen unterschlüpft.
Wir gingen zu zweit hin. In berüchtigten Quartieren waren wir manchmal zahlreicher. Wir warteten einen Zeitpunkt ab, da die meisten Leute in ihren Betten liegen, kurz nach Mitternacht.
Dann begann ein Alptraum, immer nach dem gleichen Schema: der Nachtconcierge, der Wirt oder die Wirtin, die hinter dem Empfangspult schliefen, mürrisch aufwachten und sofort in Deckung
Weitere Kostenlose Bücher