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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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gingen.
    »Sie wissen doch, daß wir hier noch nie Scherereien gehabt haben …«
    Früher waren die Namen in die Gästebücher eingetragen worden. Später, als jedermann einen Ausweis auf sich tragen mußte, hatte man Meldeformulare auszufüllen.
    Einer von uns blieb unten. Der andere ging nach oben. Manchmal waren die Gäste trotz aller unserer Vorsichtsmaßnahmen gewarnt worden, und dann hörten wir schon vom Erdgeschoß aus ein Summen wie von einem aufgescheuchten Bienenschwarm, ein Kommen und Gehen in den Zimmern, das Geräusch verstohlener Schritte auf der Treppe.
    Hin und wieder fanden wir ein leeres Zimmer vor, ein noch warmes Bett und ganz oben eine offene Luke, die auf die Dächer führte.
    In der Regel aber erreichten wir den ersten Stock, ohne die Bewohner aufzuschrecken, und wir klopften an die erste Tür, hörten eine brummende Antwort, meist in einer fremden Sprache, und fragende Stimmen.
    »Polizei!«
    Das Wort verstehen sie alle. Und sie liefen umher, im Nachthemd oder auch splitternackt, Männer, Frauen und Kinder. Liefen in dem trüben Schein der Lampe, in dem Gestank umher, schlossen unwahrscheinlich aussehende Gepäckstücke auf, um nach einem Paß zu suchen, den sie unter ihren Sachen vergraben hatten.
    Man muß die Furcht in diesen Augen gesehen haben, diese Gebärden von Nachtwandlern, diese eigenartige Unterwürfigkeit, wie man sie nur bei Entwurzelten findet. Kann man es eine stolze Unterwürfigkeit nennen?
    Sie haßten uns nicht. Wir waren ihre Herren und Meister. Wir besaßen, glaubten sie, die furchtbarste Macht, die es auf Erden gab: Wir konnten sie über die Grenze zurückschicken.
    In Paris zu sein, bedeutete für viele jahrelanges Warten, jahrelange List und Geduld. Sie hatten das gelobte Land erreicht. Sie besaßen Papiere, echte oder falsche.
    Und während sie uns diese Papiere vorzeigten, immer in der Angst, wir könnten sie in unsere Tasche stecken, bemühten sie sich instinktiv, uns mit einem Lächeln, ein paar gestotterten Brocken Französisch zu erweichen:
    »Missié li commissaire …«
    Die Frauen verloren oft jegliche Scham. Man konnte manchmal ein Zögern in ihren Augen lesen, man sah, wie sie mit einer kaum merklichen Gebärde auf das zerwühlte Bett deuteten. Ob wir vielleicht Lust hatten? Ob es uns Spaß machen würde?
    Und doch waren alle diese Menschen stolz, auf eine besondere Art, die ich nicht beschreiben kann. War es der Stolz der Raubtiere?
    Ja, ein wenig erinnerten sie an Raubtiere im Käfig, während sie jede unserer Bewegungen mit den Blicken verfolgten und nicht wußten, ob wir sie im nächsten Augenblick schlagen oder streicheln würden.
    Es konnte auch geschehen, daß einer seine Papiere schwenkte und, von jäher Panik erfaßt, in seiner Muttersprache drauflos zu reden begann, daß er wild gestikulierte, die anderen zu Hilfe rief, uns mit allen Mitteln überzeugen wollte, daß er ein anständiger Mann sei, daß alles nicht so sei, wie wir glaubten, daß …
    Manche weinten, andere hockten lauernd in einer Ecke, scheinbar sprungbereit, in Wirklichkeit resigniert.
    Die Personalien überprüfen, nennt man das in der Amtssprache. Die Inhaber von Ausweisen, deren Echtheit auch noch dem geringsten Zweifel standhält, dürfen in ihrem Zimmer bleiben, wo sie sich mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung einschließen.
    Die anderen …
    »Kommen Sie mit!«
    Wenn sie nicht gleich verstehen, muß man mit Zeichen nachhelfen. Dann ziehen sie sich an, immerzu vor sich hin redend. Sie wissen nicht, was sie mitnehmen sollen, mitnehmen dürfen. Drehen wir ihnen zufällig den Rücken zu, so holen sie manchmal noch schnell ihren Schatz aus irgendeinem Versteck und lassen ihn in die Tasche oder unter das Hemd gleiten.
    Sie alle bilden schließlich eine kleine Gruppe im Erdgeschoß, wo keiner mehr spricht, wo jeder nur noch an seinen eigenen Fall und an die beste Art, ihn zu verfechten, denkt.
    Im Quartier Saint-Antoine gibt es Hotels, wo ich einmal sieben oder acht Polen im gleichen Zimmer vorgefunden habe. Sie schliefen zum größten Teil auf dem nackten Boden.
    Nur einer hatte sich ins Gästebuch eingetragen. Wußte das der Wirt? Ließ er sich für die zusätzlichen Schläfer bezahlen? Es ist mehr als wahrscheinlich, aber solche Dinge beweisen zu wollen, wäre ein sinnloses Unterfangen.
    Daß mit den anderen etwas nicht stimmte, war natürlich ebenfalls klar. Was taten sie, wenn sie im Morgengrauen den Schutz des Zimmers verlassen mußten?
    Da sie keine

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