Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
ziehen sich über Monate hin. Manchen Schuldigen bekommt man erst nach Jahren zu fassen, bisweilen durch reinen Zufall.
In allen oder fast allen Fällen ist das Verfahren das gleiche.
Vor allem muß man sich auskennen.
Sich auskennen im Milieu, in dem ein Verbrechen verübt worden ist. Sich auskennen in der Lebensweise, den Gewohnheiten, Sitten, Reaktionen der Beteiligten, der Opfer, Täter und gewöhnlichen Zeugen.
Ihre Welt unbeirrt und festen Schrittes betreten und natürlich ihre Sprache sprechen.
Das gilt für ein Bistro in La Villette wie für eines an der Porte d’Italie, für die Araber von der ›Zone‹ wie für die Polen oder Italiener, für die Animierdamen von Pigalle wie für die jungen Banditen an der Place des Ternes.
Es gilt auch für die Welt der Buchmacher, Hasardspieler, Tresorknacker und Juwelendiebe.
Deshalb vergeuden wir nicht unsere Zeit, wenn wir jahrein, jahraus die Straßen abklopfen, Stockwerke erklimmen oder Warenhausdiebinnen überwachen.
Es sind unsere Lehrjahre, gleich wie beim Schuster, beim Bäcker, mit dem Unterschied, daß sie bei uns nahezu ein Leben lang dauern, weil es eine praktisch unbegrenzte Zahl von verschiedenen Welten gibt.
Die Dirnen, die Taschendiebe, die Hasardspieler, die Einbrecher und Scheckbetrüger erkennen sich gegenseitig als solche.
Ähnliches könnte man nach so und so vielen Dienstjahren von den Polizisten sagen. Und das hat nun nichts mehr mit Nagelschuhen und Schnurrbärten zu tun.
Ich glaube, man muß es im Blick suchen, in einer bestimmten Reaktion – oder vielmehr mangelnden Reaktion – auf bestimmte Menschen, bestimmte Notlagen, bestimmte Anomalien.
Ob es den Romanautoren paßt oder nicht, der Polizist ist vor allem ein Fachmann. Er ist Beamter.
Er spielt keine Ratespiele, er gerät nicht in Aufregung wegen einer mehr oder weniger spannenden Jagd.
Wenn er eine Nacht lang im Regen steht, um eine Tür, die nicht aufgeht, oder ein erleuchtetes Fenster zu beobachten, wenn er auf den Terrassen der Boulevardcafés geduldig nach einem ihm bekannten Gesicht sucht oder sich anschickt, einen schreckensbleichen Menschen stundenlang zu verhören, dann tut er nichts als seine tägliche Pflicht.
Er verdient sich seinen Lebensunterhalt, und das heißt, daß er so ehrlich wie möglich das Geld zu verdienen sucht, das ihm die Regierung am Monatsende als Lohn für seine Dienste bezahlt.
Ich weiß, meine Frau wird den Kopf schütteln, wenn sie diese Zeilen liest. Sie wird mich vorwurfsvoll anblicken und vielleicht sagen:
»Du mußt doch immer übertreiben!«
Und bestimmt wird sie hinzufügen:
»Du zeichnest ein falsches Bild von dir und deinen Kollegen.«
Sie hat recht. Es ist möglich, daß ich im umgekehrten Sinn ein bißchen übertreibe. Es ist eine Reaktion auf die üblichen festen Vorstellungen, die der Laie sich macht und über die ich mich so oft geärgert habe.
Wie manches Mal haben mir meine Kollegen nach dem Erscheinen eines neuen Simenon mit spöttischer Miene entgegengeblickt, wenn ich ins Büro kam!
Ich las in ihren Augen, was sie dachten:
»Da kommt der Gottvater!«
Deshalb bestehe ich so nachdrücklich auf dem Wort ›Beamter‹, mögen andere es auch als abschätzig empfinden.
Ich bin fast mein ganzes Leben lang Beamter gewesen. Ich bin es dank Inspektor Jacquemain schön an der Schwelle zum Erwachsensein geworden.
So wie mein Vater seinerzeit Schloßverwalter geworden ist. Mit dem gleichen Stolz. Mit dem gleichen Willen, meinen Beruf in- und auswendig zu kennen und meine Pflicht gewissenhaft zu erfüllen.
Der Unterschied zwischen den anderen Beamten und denen vom Quai des Orfèvres besteht darin, daß die letzteren gewissermaßen zwischen zwei Welten balancieren.
In ihrer Kleidung, Ausbildung, Wohnung und Lebensweise zeichnen sie sich durch nichts vor anderen Bürgern des Mittelstandes aus, und wie diese träumen auch sie von einem kleinen Haus auf dem Land.
Nichtsdestoweniger verbringen sie den größten Teil ihrer Zeit im Kontakt mit der Kehrseite der Menschheit, dem Abfall, dem Abschaum, ja dem Feind der organisierten Gesellschaft.
Das hat mir oft zu denken gegeben. Ich empfinde diese Situation als sonderbar, bisweilen sogar als unheimlich.
Ich lebe in einer bürgerlichen Wohnung, wo leckere Düfte aus brutzelnden Töpfen mich abends erwarten, wo alles einfach ist und klar, sauber und gemütlich. Von meinen Fenstern aus sehe ich lauter Wohnungen, die so sind wie meine, Mütter, die ihre Kinder auf dem Boulevard
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