Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
spazieren führen, Hausfrauen, die einkaufen gehen.
Ich gehöre zu diesem Milieu, ja, zu diesen Leuten, die man die braven nennt.
Aber ich kenne auch die anderen, jedenfalls so gut, daß zwischen ihnen und mir eine persönliche Beziehung entstehen konnte. Wenn ich an den billigen Brasserie-Mädchen auf der Place de la République vorbeigehe, wissen sie, daß ich ihre Sprache und den Sinn ihres Tuns verstehe. Der Gauner, der sich vor mir durch die Menge schlängelt, weiß es auch.
Und alle anderen, denen ich jemals begegnet bin, denen ich Tag für Tag in ihrer intimsten Sphäre begegne, wissen es ebenfalls.
Genügt das, damit eine Beziehung entstehen kann?
Es geht mir nicht darum, sie zu entschuldigen, ihr Verhalten zu billigen, sie reinzuwaschen. Es geht mir auch nicht darum, sie mit Gott weiß was für einem Glorienschein zu umgeben, wie dies eine Zeitlang Mode war.
Es geht darum, daß man sie als eine Tatsache hinnimmt, daß man sie mit dem Blick eines Menschen betrachtet, der sich auskennt.
Ohne Neugier, weil Neugier schnell verfliegt.
Ohne Haß natürlich.
Sie also eigentlich als Menschen zu betrachten, die nun einmal existieren und die man um der Gesundheit der Gesellschaft, um der bestehenden Ordnung willen in bestimmten Schranken halten und bestrafen muß, wenn sie die Schranken überschreiten.
Sie wissen das selber genau. Sie nehmen es uns nicht übel.
»Es ist schließlich Ihr Beruf«, pflegen sie uns zu sagen.
Was sie im übrigen von diesem Beruf halten, will ich lieber gar nicht wissen.
Ist es ein Wunder, daß man nach fünfundzwanzig oder dreißig Dienstjahren etwas schwerfällig daherschreitet und noch schwerfälliger, ja manchmal sogar leer dreinblickt?
»Ekelt es Sie nicht manchmal an?«
Nein! Das ist es eben! Wahrscheinlich habe ich mir in meinem Beruf einen ziemlich handfesten Optimismus zugelegt.
Ich könnte auch einen Lieblingsausspruch meines Religionslehrers abwandeln und sagen: Wenig Wissen entfernt uns vom Menschen, viel Wissen führt uns zu ihm zurück.
Gerade weil ich jede Art von Schmutz gesehen habe, ist mir klar geworden, wie viel schlichte Tapferkeit, guter Wille oder Ergebung das Unsaubere aufwiegen.
Durch und durch verkommene Menschen gibt es selten, und von denen, die ich gekannt habe, bewegten sich die meisten leider außerhalb meiner Reichweite, außerhalb unseres Arbeitsbereichs.
Was die anderen Übeltäter betrifft, so habe ich mich bemüht zu verhindern, daß sie zu viel Unheil anrichteten, und irgendwie dafür gesorgt, daß sie für das, was sie angerichtet hatten, auch bezahlten.
Damit, scheint mir, geht die Rechnung auf.
Wozu darauf zurückkommen?
8
Die Place des Vosges, ein Fräulein, das heiraten wird, und Madame Maigrets kleine Zettel
»Eigentlich«, hat Louise gesagt, »sehe ich da keinen großen Unterschied.«
Ich beobachte sie immer etwas besorgt, wenn sie liest, was ich gerade geschrieben habe, und versuche ihren Einwänden zuvorzukommen.
»Unterschied? Wo?«
»Zwischen dem, was du von dir erzählst, und dem, was Simenon über dich geschrieben hat.«
»Ach!«
»Vielleicht ist es falsch, wenn ich dir sage, was ich denke.«
»Aber nein, keineswegs!«
Und doch, wenn sie recht hat, habe ich mich umsonst abgerackert. Und es ist durchaus möglich, daß sie recht hat, daß ich die Sache nicht richtig angepackt, die Dinge nicht so dargestellt habe, wie ich es mir vorgenommen hatte.
Oder aber die berühmte Behauptung, frisierte Wahrheiten seien echter als nackte, ist nicht nur ein Paradoxon.
Ich habe mein Bestes getan. Nur eben, es gibt eine Menge Dinge, die ich zu Beginn wesentlich fand, Punkte, auf die ich näher eingehen wollte und die ich im Lauf der Zeit dann doch beiseitegelassen habe.
Ein Beispiel: Auf einem Regal meiner Bibliothek stehen Simenons Bücher. Ich habe darin alles, was nicht stimmt, geduldig mit Blaustift angestrichen und mich darauf gefreut, die Fehler zu berichtigen, die er begangen hat, weil er es entweder nicht besser wußte oder der Geschichte mehr Farbe geben wollte, oft auch nur, weil er nicht den Mut hatte, mich anzurufen, um Einzelheiten nachzuprüfen.
Doch was soll’s! Ich wäre mir als kleinlicher Pedant vorgekommen. Und ich glaube allmählich selber, daß das alles gar nicht so wichtig ist.
Was mich vielleicht am meisten irritiert hat, ist seine Manie, Daten zu verwechseln, Untersuchungen an den Anfang meiner Laufbahn zu verlegen, mit denen ich mich erst später zu befassen hatte – oder umgekehrt, so daß meine
Weitere Kostenlose Bücher