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Maigret - 43 - Hier irrt Maigret

Maigret - 43 - Hier irrt Maigret

Titel: Maigret - 43 - Hier irrt Maigret Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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geworden ist, verdankt er einzig und allein seiner Willenskraft. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß er weder eine Kindheit noch eine Jugend gehabt hat. Verstehen Sie, was ich meine?«
    »Durchaus.«
    »Er ist eine Art Elementarkraft. Obwohl ich seine Frau bin, glaube ich sagen zu dürfen, daß er ein Genie ist – ich bin nicht die erste, die das sagt, und ich werde nicht die letzte sein.«
    Maigret nickte abermals.
    »Die Leute haben genialen Menschen gegenüber im allgemeinen eine merkwürdige Einstellung. Sie geben gern zu, daß sie anders sind als die anderen, was ihre Intelligenz und ihre berufliche Tätigkeit betrifft. Jeder Kranke findet es normal, daß Gouin um zwei Uhr nachts aufsteht und eine Operation vornimmt, die nur er allein durchführen kann, und daß er um neun wieder im Krankenhaus ist, um sich über andere Patienten zu beugen. Aber derselbe Kranke wäre schockiert zu erfahren, daß er auf anderen Gebieten ebenfalls eine Ausnahme ist.«
    Maigret erriet, worauf sie hinauswollte, zog es aber vor, sie reden zu lassen. Sie tat es übrigens mit überzeugender Gelassenheit.
    »Etienne hat sich nie etwas aus den sogenannten kleinen Freuden des Daseins gemacht. Er hat so gut wie keine Freunde. Soweit ich mich erinnern kann, hat er auch nie Urlaub genommen. Seine Energie ist einfach unglaublich. Und er kann sich nur auf eine einzige Art entspannen: mit Frauen.«
    Sie warf Lucas einen Blick zu und wandte sich wieder zu Maigret:
    »Ich hoffe, ich schockiere Sie nicht.«
    »Keineswegs.«
    »Verstehen Sie mich bitte richtig. Er ist nicht der Mann, der einer Frau den Hof macht. Dazu hat er weder Geduld noch Neigung. Was er von ihnen verlangt, ist eine brutale Entspannung; ich glaube nicht, daß er jemals verliebt gewesen ist.«
    »Auch in Sie nicht?«
    »Das habe ich mich schon oft gefragt. Ich weiß es nicht. Wir sind schon seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet. Vorher war er Junggeselle und lebte mit einer alten Haushälterin zusammen.«
    »In diesem Haus?«
    »Ja. Er war dreißig, als er die Wohnung zufällig mietete, und seither ist er nie auf den Gedanken gekommen, sie zu wechseln, nicht einmal, als er seine Arbeit im Krankenhaus Cochin aufnahm. Obwohl das am anderen Ende der Stadt ist.«
    »Haben Sie in seiner Abteilung gearbeitet?«
    »Ja. Ich nehme an, ich brauche kein Blatt vor den Mund zu nehmen?«
    Immer noch störte sie die Anwesenheit von Lucas, der es wohl fühlte und vor Unbehagen seine kurzen Beine immer wieder übereinanderschlug.
    »Er hat mich monatelang kaum beachtet. Ich wußte natürlich, wie alle im Krankenhaus, daß die meisten Schwestern einmal dran glauben mußten und daß das nichts weiter zu bedeuten hatte. Eines Nachts, als ich gerade Dienst hatte und wir das Ergebnis einer dreistündigen Operation abwarten mußten, hat er mich genommen, ohne ein Wort.«
    »Liebten Sie ihn?«
    »Ich glaube, ja. Jedenfalls bewunderte ich ihn. Als er mich einige Tage später einlud, mit ihm in einem Restaurant im Faubourg Saint-Jacques zu Mittag zu essen, war ich ganz überrascht. Er hat mich gefragt, ob ich verheiratet wäre. Vorher hatte er sich nie dafür interessiert. Dann wollte er noch wissen, was meine Eltern machten, und ich habe ihm erzählt, daß mein Vater Fischer in der Bretagne sei …
    Langweile ich Sie?«
    »Nicht im geringsten.«
    »Mir liegt soviel daran, daß Sie ihn verstehen!«
    »Haben Sie keine Angst, daß er heimkommt und sich wundert, daß Sie nicht oben sind?«
    »Bevor ich herunterkam, rief ich in der Klinik Saint-Joseph an, wo er jetzt operiert. Vor halb acht ist er bestimmt nicht zurück.«
    Es war Viertel nach sechs.
    »Wo bin ich stehengeblieben? Ach ja. Wir haben also zusammen zu Mittag gegessen, und er wollte wissen, was mein Vater sei. Jetzt wird die Sache aber komplizierter. Vor allem, weil ich nicht möchte, daß Sie mich falsch verstehen. Daß ich aus einem ähnlichen Milieu wie er stammte, hat ihn beruhigt. Kein Mensch ahnt nämlich, wie schüchtern er ist, geradezu krankhaft schüchtern, aber nur Leuten gegenüber, die einer anderen Gesellschaftsschicht angehören. Das dürfte auch der Grund sein, warum er mit vierzig noch unverheiratet war und mit der sogenannten besseren Gesellschaft keinen Kontakt hatte. Alle Mädchen, mit denen er sich einließ, waren Mädchen aus dem Volk.«
    »Ich verstehe.«
    »Ich frage mich, ob er mit einer anderen …«
    Sie errötete und gab damit ihren Worten einen ganz bestimmten Sinn.
    »Er gewöhnte sich an mich, obwohl er es

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