Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
mit den anderen genauso trieb wie bisher. Dann, eines Tages, fragte er mich so ganz nebenbei, ob ich ihn heiraten wollte. Das ist alles. Ich bin hierhergezogen und habe ihm den Haushalt geführt.«
»Hat er die Haushälterin entlassen?«
»Eine Woche nach der Hochzeit. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich nicht eifersüchtig bin? Das wäre lächerlich von mir.«
Maigret konnte sich nicht erinnern, jemals einen Menschen so intensiv betrachtet zu haben wie diese Frau. Sie mußte es spüren, war aber dennoch nicht eingeschüchtert, im Gegenteil. Sie schien zu verstehen, von welcher Art das Interesse war, das er ihr entgegenbrachte.
Sie wollte nichts unerwähnt lassen; kein einziger Charakterzug ihres bedeutenden Mannes sollte übergangen werden.
»Er schlief nach wie vor mit den Krankenschwestern, mit seinen jeweiligen Operationsschwestern, kurz, mit allen Frauen, die ihm in die Hände fielen und von denen er annehmen konnte, daß sie ihm das Leben nicht komplizieren würden. Vielleicht ist das der springende Punkt. Er würde sich um keinen Preis auf ein Abenteuer einlassen, das ihm seine Zeit raubte, die er seinem Beruf schuldig zu sein glaubt.«
»Und Lulu?«
»Sie wissen also schon, daß man sie Lulu nannte? Ich komme gleich darauf zu sprechen. Sie werden sehen, es ist ebenso einfach wie alles übrige. Darf ich mir ein Glas Wasser holen?«
Lucas wollte aufstehen, aber sie war schon in der Küche; man hörte das Wasser laufen. Als sie sich wieder hinsetzte, waren ihre Lippen feucht; auf ihrem Kinn stand ein Wassertropfen.
Sie war nicht eigentlich hübsch, auch nicht schön, trotz ihrer regelmäßigen Züge. Aber es tat einem irgendwie wohl, sie anzusehen. Es ging etwas Beruhigendes von ihr aus; wäre er krank gewesen, hätte sich Maigret gerne von ihr pflegen lassen. Sie war auch die Frau, mit der man zum Essen ausgehen konnte, ohne sich den Kopf zerbrechen zu müssen, worüber man wohl mit ihr reden sollte. Kurz, sie war ein Kamerad, der alles verstand, den nichts in Erstaunen setzen oder schockieren konnte.
»Ich nehme an, Sie wissen, wie alt er ist?«
»Zweiundsechzig, nicht?«
»Ja. Und dabei ist er noch äußerst vital. Ich meine das in jeder Beziehung. Trotzdem glaube ich, daß alle Männer von einem gewissen Alter an vor dem Gedanken zurückschrecken, ihre Manneskraft schwinden zu sehen.«
Es fiel ihr ein, daß auch Maigret bereits über fünfzig war, und sie stotterte:
»Entschuldigen Sie …«
»Aber bitte.«
Zum ersten Mal mußten sie gleichzeitig lächeln.
»Ich stelle mir eben vor, daß es auch anderen Männern so geht. Ich weiß nicht recht. Auf jeden Fall hat sich Etienne in letzter Zeit mehr denn je ausgetobt. Sind Sie noch immer nicht schockiert?«
»Nein, noch immer nicht.«
»Vor ungefähr zwei Jahren rettete er einer kleinen Patientin, Louise Filon, auf geradezu wunderbare Weise das Leben. Sie kennen vermutlich ihr Vorleben. Sie kam aus den untersten Schichten, und gerade das dürfte meinen Mann angesprochen haben.«
Maigret nickte abermals, denn alles, was sie sagte, klang überzeugend und war so einfach wie ein Polizeirapport.
»Begonnen hat es vermutlich im Krankenhaus, während ihrer Rekonvaleszenzzeit. Dann brachte er sie in einer Wohnung in der Rue La Fayette unter – nicht ohne mich vorher so ganz nebenbei darüber zu informieren. Er hat mir keine Einzelheiten erzählt; in solchen Dingen war er schon immer irgendwie prüde und ist es bis heute geblieben. Eines Tages, wir saßen gerade beim Essen, erzählte er mir ganz unvermittelt, was geschehen war, beziehungsweise was er zu tun gedachte. Ich stellte ihm keine Fragen. Und dann haben wir nicht mehr darüber gesprochen.«
»Haben Sie ihm vorgeschlagen, sie hier im Haus einzuquartieren?«
Es schien sie zu freuen, daß Maigret es erraten hatte.
»Damit Sie mich verstehen, muß ich Ihnen noch andere Einzelheiten schildern. Entschuldigen Sie, wenn ich so weit aushole. Aber es gehört eben alles dazu. Früher fuhr Etienne seinen Wagen selbst. Aber vor ein paar … ja, vor genau vier Jahren hatte er einen kleinen Unfall, auf der Place de la Concorde. Er stieß eine Fußgängerin um; glücklicherweise kam sie mit leichten Quetschungen davon. Trotzdem, es war ein Schock für ihn. Ein paar Monate lang hatten wir einen Chauffeur, aber Etienne konnte sich nicht an ihn gewöhnen. Daß ein Mann im besten Alter nichts Besseres zu tun hatte, als stundenlang unten auf der Straße auf ihn zu warten, ging ihm gegen den Strich. Ich
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