Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
habe ihm vorgeschlagen, ihn herumzufahren, aber das war auch nicht praktisch, und er hat sich angewöhnt, im Taxi zu fahren. Ein paar Monate lang hatten wir den Wagen in der Garage stehen, und schließlich verkauften wir ihn. Jetzt holt ihn jeden Morgen das gleiche Taxi ab und macht mit ihm einen Teil seiner täglichen Fahrt. Von hier bis zum Faubourg Saint-Jacques ist es eine ganz schöne Strecke. Auch in Neuilly hat er mehrere Patienten, und nicht selten auch in den übrigen städtischen Krankenhäusern. Wenn er da obendrein noch in die Rue La Fayette fahren müßte …«
Wieder mußte Maigret ihr zustimmen. Lucas schien inzwischen eingenickt zu sein.
»Der Zufall wollte es, daß hier im Haus gerade eine Wohnung frei wurde.«
»Einen Augenblick. Hat Ihr Mann oft die Nacht in der Rue La Fayette verbracht?«
»Nur einen Teil der Nacht. Er legte Wert darauf, hier zu sein, wenn ihn seine Assistentin, die zugleich seine Sekretärin ist, morgens abholte.«
Sie lachte leise.
»All das hat sich sozusagen infolge der häuslichen Komplikationen so ergeben. Ich fragte ihn schließlich, warum er das Mädchen nicht hier im Haus einquartierte.«
»Wußten Sie, wer sie war?«
»Ich wußte alles über sie, auch daß sie einen Liebhaber hatte, der Pierrot hieß.«
»Und er? Wußte er es auch?«
»Ja. Er war nicht eifersüchtig. Es wäre ihm wahrscheinlich unangenehm gewesen, ihn hier bei Lulu zu treffen, aber da sich das Ganze außerhalb seines Gesichtskreises abspielte …«
»Fahren Sie fort. Er nahm also Ihren Vorschlag an. Und sie?«
»Sie scheint sich eine Zeitlang geweigert zu haben.«
»Und was empfand Ihrer Meinung nach Lulu für den Professor?«
Unwillkürlich begann Maigret im gleichen Ton wie Frau Gouin von diesem Mann zu sprechen, den er nie gesehen hatte und der doch beinahe anwesend zu sein schien.
»Wollen Sie, daß ich aufrichtig spreche?«
»Ich bitte Sie darum.«
»Zuerst war sie ihm hörig, wie alle Frauen, die sich mit ihm einlassen. Sie werden zwar denken, daß das eine seltsame Art Stolz von mir ist, aber wenn er auch nicht das ist, was man schön nennt, und auch nicht mehr der Jüngste – ich kenne kaum eine Frau, die ihm widerstanden hätte. Die Frauen spüren ganz instinktiv seine Kraft und …«
Diesmal fand sie die Worte nicht, die sie suchte.
»Kurz und gut, so ist es eben. Sie können ruhig die anderen fragen, ich glaube nicht, daß sie etwas anderes sagen werden als ich. Mit diesem Mädchen war es wie mit allen anderen. Außerdem hat er ihr das Leben gerettet und sie so behandelt, wie sie es vorher bestimmt nicht gewohnt war.«
Auch das war klar und logisch.
»Aber, um ganz und gar aufrichtig zu sein, ich bin davon überzeugt, daß auch das Geld eine Rolle gespielt hat. Vielleicht nicht das Geld selbst, aber doch die Aussicht auf ein einigermaßen gesichertes, sorgenfreies Leben.«
»Hat sie nie davon gesprochen, daß sie ihn Pierrots wegen verlassen würde?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Haben Sie Pierrot schon einmal gesehen?«
»Ich bin ihm einmal im Hauseingang begegnet.«
»Kam er oft hierher?«
»Eigentlich nicht. Sie traf ihn gewöhnlich am Nachmittag, wo, weiß ich nicht. Er ist nur ganz selten zu ihr gekommen.«
»Wußte Ihr Mann davon?«
»Möglich.«
»Hat er es mißbilligt?«
»Vielleicht, wenn auch nicht aus Eifersucht. Es ist schwer zu erklären.«
»Hing Ihr Mann sehr an dem Mädchen?«
»Sie verdankte ihm alles. Sie war sozusagen sein Geschöpf, denn ohne ihn wäre sie ja nicht mehr am Leben. Vielleicht hat er an den Tag gedacht, wo es keine Frauen mehr für ihn geben würde. Und dann – aber das ist nur eine Vermutung –, vor ihr brauchte er keine Hemmungen zu haben.«
»Und vor Ihnen?«
Einen Augenblick lang hielt sie ihren Blick auf den Teppich geheftet.
»Ich bin immerhin eine Frau.«
»Während die andere nichts war!« hätte er am liebsten eingeworfen.
Denn das hatte sie zweifellos gedacht; wer weiß, vielleicht dachte auch der Professor nicht anders.
Er zog es vor zu schweigen.
Eine Weile lang herrschte Stille zwischen den dreien. Draußen fiel noch immer lautlos der Regen. Im Haus gegenüber waren jetzt einige Fenster erleuchtet; hinter einem cremefarbenen Vorhang bewegte sich ein Schatten.
»Erzählen Sie mir von gestern abend«, sagte Maigret endlich und fügte hinzu, indem er auf seine frischgestopfte Pfeife zeigte:
»Sie gestatten doch?«
»Aber natürlich.«
Sein Interesse für Frau Gouin war so stark gewesen, daß er gar
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