Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
nicht daran gedacht hatte zu rauchen.
»Was möchten Sie wissen?«
»Zunächst ein Detail. Pflegte Ihr Mann bei Lulu zu schlafen?«
»Das kam äußerst selten vor. Oben bewohnen wir die ganze Etage. Links sind die sogenannten Wohnräume. Rechts hat mein Mann sein Schlafzimmer, sein Badezimmer, seine Bibliothek und noch einen Raum, der bis zur Decke mit wissenschaftlicher Literatur vollgestopft ist, und schließlich sein Büro und das seiner Sekretärin.«
»Sie haben also getrennte Schlafzimmer?«
»Das haben wir seit jeher gehabt. Unsere Zimmer sind nur durch ein Boudoir voneinander getrennt.«
»Darf ich Ihnen eine indiskrete Frage stellen?«
»Sie haben jedes Recht dazu.«
»Unterhalten Sie noch eheliche Beziehungen zu Ihrem Mann?«
Sie sah wieder Lucas an, der sich überflüssig vorkam und nicht wußte, wie er sich verhalten sollte.
»Selten.«
»Sozusagen nie?«
»Ja.«
»Schon lange nicht mehr?«
»Seit Jahren.«
»Fehlt Ihnen das nicht?«
Sie war nicht schockiert. Sie schüttelte nur lächelnd den Kopf.
»Ich soll also beichten? Gut, ich will so ehrlich wie möglich sein. Sagen wir, es fehlt mir ein wenig.«
»Lassen Sie ihn das nicht merken?«
»Natürlich nicht.«
»Haben Sie keinen Liebhaber?«
»Auf diese Idee bin ich noch nicht gekommen.«
Sie schwieg einen Augenblick und sah ihn fest an.
»Glauben Sie mir das?«
»Ja.«
»Ich danke Ihnen. Die Leute geben sich nämlich nicht immer mit der Wahrheit zufrieden. Wenn man sich mit einem Mann wie Gouin verbunden hat, ist man zu gewissen Opfern bereit.«
»Er ging also zu ihr hinunter und kam dann wieder herauf?«
»Ja.«
»Auch gestern abend?«
»Nein. Er tat es nicht jeden Tag. Es gab Wochen, in denen er kaum mehr als ein paar Minuten bei ihr blieb. Es hing von seiner Arbeit ab, zweifellos aber auch von anderen gelegentlichen Abenteuern.«
»Er hat also nach wie vor Beziehungen zu anderen Frauen?«
»Die Art Beziehungen, die ich Ihnen geschildert habe.«
»Und gestern?«
»Er war nach dem Abendessen ein paar Minuten bei ihr. Ich weiß es, weil er nicht in den Fahrstuhl stieg, als er wegging.«
»Und woraus schließen Sie, daß er nur ein paar Minuten bei ihr blieb?«
»Weil ich gehört habe, wie er ihre Wohnung verließ und den Fahrstuhl heraufholte.«
»Sie haben ihm also nachspioniert?«
»Sie sind ein schrecklicher Mensch, Monsieur Maigret. Ja, ich habe ihm nachspioniert, wie gewöhnlich, aber ich tue es nicht aus Eifersucht, sondern … Wie soll ich Ihnen das erklären, ohne daß Sie mich für anmaßend halten? Ich tue es, weil ich es für meine Pflicht halte, ihn zu beschützen, zu wissen, wo er ist und was er tut, und ihn in Gedanken überallhin zu begleiten.«
»Wie spät war es gerade?«
»Ungefähr acht Uhr. Wir hatten in aller Eile gegessen, weil er wieder ins Krankenhaus mußte, wo er am Nachmittag operiert hatte. Er befürchtete eine Komplikation und wollte in der Nähe des Kranken bleiben.«
»Er ist also nur ein paar Minuten in Lulus Wohnung geblieben und dann mit dem Fahrstuhl hinuntergefahren?«
»Ja. Mademoiselle Decaux, seine Assistentin, wartete unten auf ihn, wie immer, wenn er abends noch einmal ins Krankenhaus muß. Sie wohnt in der Rue des Acacias, unweit von hier. Sie fahren immer zusammen ins Krankenhaus.«
»Auch sie?« fragte er, indem er diesen Worten eine unmißverständliche Bedeutung gab.
»Auch sie, gelegentlich. Kommt Ihnen das so ungeheuerlich vor?«
»Nein.«
»Wo war ich stehengeblieben? Gegen halb neun kam dann meine Schwester.«
»Wohnt sie in Paris?«
»Am Boulevard Saint-Michel, gegenüber der École des Mines. Antoinette ist fünf Jahre älter als ich und unverheiratet. Sie arbeitet in einer städtischen Bibliothek. Sie ist eine typische alte Jungfer.«
»Weiß sie, was für ein Leben Ihr Mann führt?«
»Sie weiß nicht alles. Aber was sie weiß, ist für sie Grund genug, ihn aus tiefstem Herzen zu hassen und zu verachten.«
»Sie vertragen sich also nicht?«
»Sie spricht nicht mit ihm. Sie ist nämlich eine überzeugte Katholikin geblieben, und für sie ist Gouin der leibhaftige Teufel.«
»Und wie behandelt er sie?«
»Er ignoriert sie einfach. Übrigens kommt sie nur selten, und immer nur, wenn ich allein zu Hause bin.«
»Sie weicht ihm also aus?«
»Nach Möglichkeit, ja.«
»Und trotzdem hat sie ihn gestern …«
»Ich sehe schon, die Concierge hat Ihnen alles erzählt. Es stimmt, daß sie einander gestern abend begegnet sind. Ich erwartete meinen Mann
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