Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
suchen. Maigret ging zu Fuß bis zum Boulevard de la Chapelle, wobei er die Mädchen beiseiteschieben mußte, die ihn nicht kannten und sich bei ihm einzuhängen versuchten. Dreihundert Meter weiter sah man die Leuchtreklamen des Carrefour Barbès blitzen. Es regnete nicht mehr, aber der gleiche Nebel wie am Morgen begann sich wieder auf die Stadt zu senken, und die Scheinwerfer der Autos waren von einer Aureole umgeben.
Bis zur Rue Riquet waren es nur ein paar Schritte. Er bog rasch um die Ecke und stieß auf Inspektor Lober. Obwohl Lober fast so alt war wie er selbst, war er noch nie befördert worden. An eine Mauer gelehnt, stand er da und rauchte.
»Nichts?«
»Nur Pärchen, die hineingehen und wieder herauskommen. Von Pierrot keine Spur.«
Maigret hätte ihm gern gesagt, er solle nach Hause gehen und sich schlafen legen. Er hätte auch Janvier gern angerufen und ihm dasselbe gesagt. Und die Überwachung der Bahnhöfe hätte man aufheben können; er war sicher, daß Pierrot Paris nicht verlassen würde. Aber er mußte tun, was die Routine verlangte. Er durfte kein Risiko eingehen.
»Ist dir nicht kalt?«
Lober roch bereits nach Rum. Solange die Kneipe dort an der Ecke offen hatte, würde er nicht unglücklich sein. Das war auch der Grund, warum er sein Leben lang Inspektor bleiben würde.
»Gute Nacht, Alter! Wenn sich was Neues ergibt, ruf mich an.«
Es war elf Uhr. Die Leute strömten aus den Kinos. Ein Pärchen nach dem anderen kam daher, und die Frauen hatten ihren Arm um die Taille ihres Begleiters gelegt. Einige standen engumschlungen in den Mauerecken, andere wieder liefen, um den letzten Autobus zu erwischen.
Die Boulevards waren hell erleuchtet, aber jede der in sie einmündenden Gassen hatte ihre Geheimnisse und Schatten; nur da und dort ragte ein gelbliches Hotelschild aus dem Dunkel.
Maigret schritt auf die Lichter zu und trat schließlich in das grelle Licht einer Bar am Boulevard Barbès, an deren riesiger, kupferbeschlagener Theke mindestens fünfzig Personen standen.
Obwohl er eigentlich einen Rum hatte trinken wollen, bestellte er automatisch einen Marc, vielleicht weil er schon im Grelot einen getrunken hatte.
Lulu hatte sich hier herumgetrieben; auch sie hatte, wie die anderen Mädchen hier, die Blicke der Männer aufzufangen versucht.
Er ging in die Telefonzelle, warf eine Münze in den Apparat und wählte die Nummer des Quai des Orfèvres. Er wußte nicht, wer gerade Dienst hatte, erkannte aber die Stimme von Lucien, einem Neuen, der über ein solides Fachwissen verfügte und sich für ein Examen vorbereitete, von dem er sich eine Beförderung versprach.
»Maigret am Apparat. Nichts Neues?«
»Nichts, Herr Kommissar, außer einer Messerstecherei zwischen zwei Arabern in de Rue de la Goutte d ’Or. Der eine starb, als man ihn auf die Tragbahre legte, der andere war verletzt und konnte entwischen.«
Das war kaum dreihundert Meter weit von dem Ort entfernt, an dem er sich jetzt befand. Und es war vor kaum zwanzig Minuten passiert, während er gerade über den Boulevard de la Chapelle gegangen war. Er hatte nichts gesehen und nichts gehört. Der Mörder war vielleicht an ihm vorbeigekommen. Bevor die Nacht zu Ende war, würden hier in der Gegend noch andere Verbrechen verübt werden. Ein paar von ihnen würde man sofort entdecken, von den anderen würde die Polizei erst viel, viel später erfahren.
Irgendwo zwischen Barbès und La Villette hielt sich auch Pierrot auf.
Wußte er, daß Lulu schwanger war? Hatte sie ihn im Grelot angerufen und ihn zu sich bestellt, um es ihm zu sagen?
Sechs Wochen, hatte Doktor Paul gesagt. Also mußte sie seit einigen Tagen etwas geahnt haben.
Hatte sie mit Etienne Gouin darüber gesprochen? Das war möglich, aber unwahrscheinlich. Sie gehörte zu der Sorte Frauen, die in solchen Fällen eher irgendeinen Arzt oder eine Hebamme aufsuchen.
Er konnte nur Vermutungen anstellen. Sie war nach Hause gekommen und hatte wahrscheinlich eine Zeitlang unschlüssig dagesessen. Madame Gouin zufolge war der Professor nach dem Essen noch bei Lulu gewesen, aber nur ein paar Minuten dort geblieben.
Maigret, der jetzt wieder an der Theke stand, bestellte noch einen Schnaps. Er hatte keine Lust, sofort wieder wegzugehen. Es schien ihm, als könnte er hier besser als anderswo an Lulu und Pierrot denken.
»Nein, sie hat es Gouin nicht erzählt«, murmelte er vor sich hin.
Sie mußte es zuerst Pierre Eyraud mitgeteilt haben; das erklärte auch, warum er so
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