Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
ihre Instrumente ab, und der Wirt rief dem einen von ihnen, den er vorhin Louis genannt hatte, etwas zu.
Dieser sah abermals zu Maigret hinunter und entschloß sich dann, die Leiter hinunterzuklettern.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte der Kommissar.
»Wir fangen in zehn Minuten wieder an.«
»Zehn Minuten werden genügen. Was trinken Sie?«
»Nichts.«
Eine Weile blieben sie stumm. Von den anderen Tischen sahen die Leute herüber. In einigen Boxen waren nur ein paar Frauen zu sehen, die ihr Make-up erneuerten.
Louis brach als erster das Schweigen.
»Sie sind auf der falschen Fährte, Herr Kommissar«, sagte er vorwurfsvoll.
»Sie meinen, was Pierrot betrifft?«
»Pierrot hat Lulu nicht umgebracht. Aber so ist das ja immer …«
»Warum ist er dann verschwunden?«
»Weil er nicht auf den Kopf gefallen ist. Er weiß doch, daß er dran ist, wenn Sie ihn schnappen. Oder möchten Sie gern verhaftet werden?«
»Sie sind mit ihm befreundet?«
»Jawohl, das bin ich. Und ich kenne ihn besser als jeder andere.«
»Dann wissen Sie vielleicht auch, wo er ist?«
»Wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen bestimmt nicht sagen.«
»Wissen Sie es?«
»Nein. Seit gestern abend habe ich nichts mehr von ihm gehört. Sie haben doch die Zeitungen gelesen?«
Louis’ Stimme bebte von verhaltenem Zorn.
»Die Leute glauben, daß jeder, der in einem solchen Lokal spielt, ein Krimineller ist. Sie sind wohl auch dieser Ansicht?«
»Nein.«
»Sehen Sie den großen Blonden dort, vor dem Schlagzeug? Ob Sie es glauben oder nicht, er hat das Abitur und war sogar ein Jahr lang auf der Universität. Seine Eltern sind biedere Bürgersleute. Er spielt hier, weil es ihm Spaß macht. Nächste Woche heiratet er übrigens, eine Medizinstudentin. Ich selbst bin auch verheiratet, falls Sie das interessieren sollte. Wir haben zwei Kinder, und meine Frau erwartet ein drittes. Wir bewohnen eine Vierzimmerwohnung am Boulevard Voltaire.«
Maigret wußte, daß Louis die Wahrheit sagte. Er schien allerdings zu vergessen, daß der Kommissar dieses Milieu fast ebenso gut kannte wie er selbst.
»Und Pierrot? Warum hat er nicht geheiratet?« fragte er trotzdem, mit gedämpfter Stimme.
»Das ist eine andere Geschichte.«
»Weil Lulu nicht wollte?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Vor ein paar Jahren wurde Pierrot wegen Zuhälterei verhaftet.«
»Ich weiß.«
»Und was sagen Sie dazu?«
»Ich wiederhole: Das ist eine andere Geschichte.«
»Was für eine Geschichte?«
»Sie würden es ja doch nicht verstehen. Erstens kommt er aus dem Findelhaus. Sie wissen, was das heißt?«
»Allerdings.«
»Mit sechzehn hat man ihn dann laufen lassen; er ist in die Großstadt gekommen, und er tat, was er konnte. Wer weiß, was ich an seiner Stelle alles getan hätte … Aber ich hatte eben Eltern. Ich habe sie übrigens immer noch.«
Er war stolz darauf, ein Mensch wie alle anderen zu sein; gleichzeitig empfand er aber auch das Bedürfnis, diejenigen in Schutz zu nehmen, die im anderen Lager standen, und Maigret konnte nicht umhin, ihm mit einem Lächeln seine Sympathie zu bezeugen.
»Warum lächeln Sie?«
»Weil ich das alles schon kenne.«
»Wenn Sie Pierrot kennten, so würden Sie nicht alle Ihre Spitzel auf ihn hetzen.«
»Woher wissen Sie, daß die Polizei hinter ihm her ist?«
»Was die Zeitungen drucken, ist schließlich nicht aus der Luft gegriffen. Außerdem gibt es schon Unruhen im Quartier. Wenn man die Gesichter mancher Leute ansieht, so weiß man, was los ist.«
Louis haßte die Polizei, und er machte kein Hehl daraus.
»Eine Zeitlang hat er tatsächlich den schweren Burschen gespielt«, setzte er hinzu.
»Aber er war keiner?«
»Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß er ausgesprochen schüchtern und sentimental ist? Und doch ist es so.«
»Liebte er sie?«
»Ja.«
»Und er ließ sie weitermachen?«
»Was hätte er sonst tun sollen? Ich habe ja gesagt, daß Sie es nicht verstehen!«
»Und später hat er dann zugesehen, wie sie einen Liebhaber nahm und sich von ihm aushalten ließ?«
»Das ist etwas anderes.«
»Wieso?«
»Was hatte er ihr denn zu bieten? Sie glauben doch nicht etwa, daß sie von dem Geld, das er hier verdiente, leben konnten?«
»Aber Ihre Familie lebt doch auch von dem, was Sie hier verdienen?«
»Irrtum, Herr Kommissar! Meine Frau ist Schneiderin und arbeitet zehn Stunden am Tag. Dabei kümmert sie sich auch noch um die Kinder. Sie wissen eben nicht, was es heißt, in diesem Viertel
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