Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
über eine Stuhllehne.
»Durstig?«
Er hielt ihm ein Bier hin und nahm selbst eins.
»Setzen Sie sich. Ich war sicher, daß Sie kommen würden.«
»Warum?«
Seine Stimme war heiser; es war die Stimme eines Mannes, der eine schlaflose Nacht verbracht und dabei eine Zigarette nach der anderen geraucht hat. Zwei Finger seiner rechten Hand waren vom Tabak braun verfärbt. Er war unrasiert. Zweifellos hatte er dort, wo er sich verkrochen hatte, keine Möglichkeit gehabt, sich zu rasieren.
»Haben Sie gegessen?«
»Ich habe keinen Hunger.«
Er wirkte jünger, als er tatsächlich war. Er war so nervös, daß sein Anblick geradezu entmutigte. Obwohl er sich hingesetzt hatte, zitterte er immer noch am ganzen Körper.
»Sie haben versprochen, daß …« murmelte er.
»Und ich werde mein Wort halten.«
»Ich bin aus freien Stücken hergekommen.«
»Sie haben richtig gehandelt.«
»Ich habe sie nicht getötet.«
Plötzlich, als Maigret es am wenigsten erwartete, brach er in Tränen aus. Zweifellos war es das erste Mal seit dem Tode seiner Geliebten, daß er sich gehenließ. Er weinte wie ein Kind, wobei er sein Gesicht mit beiden Händen verbarg, und der Kommissar hütete sich, ihn zu unterbrechen. Seitdem er in dem kleinen Restaurant auf dem Boulevard Barbès aus der Zeitung erfahren hatte, daß Lulu tot war, hatte er im Grunde genommen keine Zeit gehabt, an sie zu denken, sondern nur an die Bedrohung gedacht, die über seinem eigenen Haupt schwebte. Von einer Minute zur anderen war er ein Gehetzter geworden, dessen Freiheit, ja dessen Kopf jeden Augenblick auf dem Spiel stand.
Jetzt, am Quai des Orfèvres, Auge in Auge mit der Polizei, die sein Alptraum gewesen war, löste sich die Spannung mit einemmal.
»Ich schwöre Ihnen, daß ich sie nicht umgebracht habe!« beteuerte er abermals.
Maigret glaubte ihm. Weder seine Stimme noch seine Haltung waren die eines Schuldigen. Louis hatte recht gehabt, als er gestern von ihm gesagt hatte, er sei im Grunde genommen ein Schwacher, der nur den Starken spiele.
Mit seinem blonden Haar, den hellen Augen und dem fast puppenhaften Gesicht sah er nicht wie ein Fleischergeselle, sondern eher wie ein kleiner Angestellter aus, und man konnte sich ihn gut vorstellen, wie er am Sonntagnachmittag mit seiner Frau auf den Champs-Élysées spazierenging.
»Haben Sie wirklich gedacht, daß ich es war?«
»Nein.«
»Warum haben Sie es dann den Zeitungen gesagt?«
»Ich habe ihnen gar nichts gesagt. Sie schreiben, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Und die Umstände …«
»Ich habe sie nicht getötet.«
»Beruhigen Sie sich jetzt. Sie können rauchen.«
Pierrots Hand zitterte immer noch, als er sich eine Zigarette anzündete.
»Ich muß Ihnen vor allem eine Frage stellen. Lebte Louise noch, als Sie Montag abend in die Avenue Carnot gingen?«
»Natürlich!«
Es stimmte wahrscheinlich, sonst hätte er nicht erst am darauffolgenden Tag, nachdem er die Mittagszeitung gelesen hatte, Angst bekommen und das Weite gesucht.
»Als sie Sie im Grelot anrief, hatten Sie da schon eine Ahnung, was sie Ihnen mitzuteilen hatte?«
»Nicht die geringste. Sie war außer sich und wollte mich dringend sprechen.«
»Dachten Sie da an etwas Bestimmtes?«
»Ich dachte, sie hätte einen Entschluß gefaßt.«
»Was für einen?«
»Schluß zu machen.«
»Schluß zu machen womit?«
»Mit dem Alten.«
»Hatten Sie das von ihr verlangt?«
»Seit zwei Jahren flehe ich sie an, zu mir zu ziehen.«
Und als wollte er den Kommissar, ja die ganze Welt zum Kampf herausfordern, fügte er hinzu:
»Ich liebe sie!«
Seine Stimme war tonlos, und er stieß die Worte silbenweise hervor.
»Wollen Sie nicht doch einen Happen essen?«
Diesmal griff Pierrot wie abwesend nach einem belegten Brot; auch Maigret nahm eins. Es war besser so. Während sie beide kauten, ließ die Spannung nach. Aus den anderen Büroräumen hörte man keinen Laut, nur irgendwo vernahm man das Klappern einer Schreibmaschine.
»Hatte Lulu Sie schon einmal von Ihrer Arbeit zu sich in die Avenue Carnot gerufen?«
»Nein. Nicht in die Avenue Carnot. Ein einziges Mal, als sie noch in der Rue La Fayette wohnte und sich plötzlich krank fühlte. Es war nur eine kleine Verdauungsstörung, aber sie hatte Angst … Sie hatte immer Angst und glaubte, sie müßte sterben …«
Das Wort »sterben« und die Erinnerungen, die es wachrief, ließen seine Augen wieder feucht werden, und es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder in sein Brot
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