Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
um halb elf, oder kurz vorher, ist ein junger Mann mit Wildlederjacke aus dem kleinen Café gegenüber herausgekommen. Vor der Brust hat er etwas getragen, was für mich wie ein ziemlich großer Fotoapparat ausgesehen hat. Ich habe mich schon gewundert …
Fast im seihen Augenblick habe ich einen anderen jungen Mann bemerkt …‹
› Einen jungen Mann, sagen Sie?‹
› Er ist mir ziemlich jung vorgekommen, ja. Kleiner als der andere, etwas kräftiger gebaut, aber nicht viel. Ich habe nicht gesehen, von wo er gekommen ist. Mit einigen schnellen und wahrscheinlich auch leisen Schritten war er hinter dem anderen und hat dann angefangen zuzustechen … Ich wollte schon das Fenster aufreißen und schreien, er solle aufhören, aber das hätte auch nichts genützt. Das Opfer lag bereits am Boden. Dann hat der Mörder sich zu ihm hinuntergebeugt und ihm den Kopf an den Haaren hochgehoben, um sein Gesicht anzuschauen …‹
› Sind Sie da ganz sicher?‹
› Ganz sicher. Die Straßenlaterne ist nicht weit weg, und ich habe selbst, wenn auch undeutlich, seine Züge sehen können. ‹
› Und weiter?‹
› Er ist weggegangen. Dann ist er zurückgekommen, als ob er etwas vergessen hätte … Ungefähr fünfzig Meter entfernt gingen die Pagliatis mit ihrem Regenschirm den Gehsteig entlang. Der Mann hat aber trotzdem noch dreimal auf den anderen, der am Boden lag, eingestochen, dann ist er weggerannt. ‹
› Ist er in die Rue du Chemin Vert eingebogen?‹
› Ja … Die Pagliatis sind dann dazugekommen und … Aber das Weitere wissen Sie ja … Doktor Pardon habe ich erkannt, aber wer der Mann war, der ihn begleitet hat, weiß ich nicht. ‹
› Würden Sie den Mörder wiedererkennen?‹
› Nicht mit Bestimmtheit … Sein Gesicht, nein, seine Gestalt, ja. ‹
› Sind Sie sicher, dass er jung warf‹
› Meiner Ansicht nach ist er nicht über dreißig. ‹
› Lange Haare?‹
› Nein. ‹
› Oberlippenbart, Backenbart?‹
› Nein. Das hätte ich gesehen. ‹
› War er vom Regen durchnässt, wie wenn er einige Zeit durch den Regen gegangen wäre, oder schien er aus einem Haus herauszukommen?‹
› Sie waren beide durchnässt … Aber gestern hatte man draußen ja innerhalb weniger Minuten klatschnasse Kleider. ‹
› Trug der Mann einen Hut?‹
› Ja. Einen dunklen, wahrscheinlich braunen Hut. ‹
› Vielen Dank. ‹
› Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß, aber bitte sorgen Sie dafür, dass mein Name nicht in die Zeitung gelangt. Einige meiner Neffen haben hohe Positionen inne, und sie würden es nicht gerne sehen, wenn bekannt würde, dass ich hier wohne …‹
Das Telefon klingelte. Der Kommissar erkannte Doktor Pardons Stimme.
»Sind Sie es, Maigret? Störe ich gerade? Ich habe nicht damit gerechnet, Sie im Büro anzutreffen … Darf ich nachfragen, ob sich etwas Neues ergeben hat?«
»Wir verfolgen eine Spur, aber es ist nicht gesagt, dass es die richtige ist. Die Autopsie hat Ihnen übrigens recht gegeben. Tödlich war nur der Stich in den rechten Lungenflügel …«
»Wo vermuten Sie die Beweggründe? Raub? Rache?«
»Ich weiß es nicht … Bei dem Wetter waren nicht viele Ganoven und Betrunkene auf der Straße. Es gab auch keine Schlägerei. Und an keinem der beiden Orte, an denen er war, bevor er ins ›Chez Jules‹ ging, hatte er irgendwelche Auseinandersetzungen …«
»Danke … Ich fühle mich doch etwas betroffen von der Angelegenheit, verstehen Sie … Aber jetzt muss ich wieder an die Arbeit! In meinem Wartezimmer sitzen elf Patienten.«
»Machen Sie’s gut!«
Maigret setzte sich an seinen Schreibtisch, suchte eine Pfeife aus und stopfte sie. Sein Blick verlor sich in der Stadtlandschaft jenseits des Fensters, die mehr und mehr im Nebel versank.
3
Um halb sechs kam ein Anruf von Lucas. »Ich nehme an, dass Sie gerne einen ersten Bericht von mir hätten, Chef. Ich bin in einem kleinen Bistro, direkt gegenüber von dem Rahmenmacher … Er heißt übrigens Émile Branchu. Den Laden in der Rue du Faubourg Saint-Antoine hat er vor etwa zwei Jahren aufgemacht.
Er stammt angeblich aus Marseille, doch sicher ist das nicht. Es heißt, er sei dort verheiratet gewesen und sei jetzt geschieden oder lebe von seiner Frau getrennt.
Er wohnt allein. Eine alte Frau macht ihm den Haushalt, zum Essen geht er in ein kleines Restaurant.
Er besitzt ein Auto, einen grünen Renault, den er nebenan in einem Hof parkt. Abends geht er oft aus und kommt sehr spät nach Hause, meist in
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