Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
Begleitung eines hübschen Mädchens, aber nie des gleichen. Nicht der Mädchentyp, der sonst hier in der Gegend aufkreuzt oder auch in den Lokalen in der Rue de Lappe. Eher der Mannequintyp mit Abendkleid und Pelzmantel … Interessiert Sie das überhaupt?«
»Natürlich. Erzähl weiter …«
Lucas war sein ältester Mitarbeiter, und manchmal duzte er ihn. Er duzte auch Lapointe, weil dieser, als er angefangen hatte, noch wie ein zu groß geratener Junge aussah.
»Es waren nur drei Kunden da, zwei Männer und eine Frau. Die Frau hat einen Spiegel gekauft, mit einem Vergrößerungsspiegel auf der Rückseite, denn er verkauft auch Spiegel. Einer der Männer wollte ein vergrößertes Foto rahmen lassen und konnte sich ewig nicht entscheiden.
Der dritte Kunde ist mit einem gerahmten Bild aus dem Laden herausgekommen. Ich konnte es ziemlich gut sehen, weil er damit zur Glastür gegangen ist, um es ans Licht zu halten. Eine Flusslandschaft, ziemlich stümperhaft gemalt …«
»Hat er nicht telefoniert?«
»Von meinem Posten aus kann ich das Telefon auf dem Ladentisch gut sehen. Er hat nicht zum Hörer gegriffen. Aber dem Zeitungsverkäufer ist er bis zur Tür entgegengekommen und hat ihm zwei verschiedene Zeitungen abgekauft.«
»Ist Lapointe auch noch da?«
»Im Moment ist er gerade draußen. Eine Hintertür führt auf den Hof und von dort auf ein Gewirr von diesen Gässchen, die es hier überall gibt … Übrigens, weil er ein Auto hat, wäre es gut, wenn Lourtie und Neveu motorisiert kämen, wenn sie uns ablösen …«
»Geht in Ordnung … Ich danke dir …«
Janvier kam vom Erkennungsdienst mit einem guten Dutzend Fahndungsfotos herunter, alles Männer um die fünfunddreißig, Haarfarbe braun, buschige Augenbrauen.
»Das ist alles, was ich fand … Brauchen Sie mich noch, Chef? Einer meiner Buben hat Geburtstag und …«
»Sag ihm einen Glückwunsch von mir …«
Er ging ins Inspektorenbüro, fand dort Lourtie und empfahl ihm, sich ein Auto für die Rue du Faubourg Saint-Antoine zu besorgen.
»Wo ist Neveu?«
»Irgendwo im Haus unterwegs. Er ist gleich zurück …«
Am Quai des Orfèvres hatte Maigret nichts mehr zu tun. Er steckte die Fotos ein, ging die Treppe hinunter in den Hof, dann durch den Torbogen, winkte dem Wachposten zu und bog in den Boulevard du Palais ein. Dort fand er ein Taxi. Er war nicht schlecht, aber auch nicht sonderlich gut gelaunt. Man hätte meinen können, er führe diese Ermittlung ohne jede Überzeugung durch, als sei von Anfang an irgendetwas falsch gelaufen. Und seine Gedanken kehrten immer wieder zu der Szene zurück, die sich bei strömendem Regen in der düsteren Rue Popincourt abgespielt hatte:
Der junge Antoine Batille, der aus dem schummrigen Bistro mit den vier Kartenspielern heraustritt … Das Ehepaar Pagliati zusammen unter dem Regenschirm, noch in einiger Entfernung … Madame Esparbès am Fenster … Und dann plötzlich ein Unbekannter, ein Mann um die dreißig oder etwas darüber, der die Bühne betritt …
Ob er Antoine Batille unter einer Haustür abgepasst hatte oder ebenfalls den Gehsteig entlanggegangen war, konnte niemand sagen … Er ging plötzlich viel rascher und hatte dann zugestochen, einmal, zweimal, mindestens viermal …
Er hörte die Schritte des Nudelmachers und seiner Frau, die keine fünfzig Meter mehr von ihm entfernt waren … Er ging Richtung Rue du Chemin Vert, und kurz vor der Ecke machte er nochmals kehrt.
Warum beugte er sich dann über sein Opfer und wusste nichts Besseres zu tun, als dessen Kopf hochzuheben? Um festzustellen, ob Antoine Batille tot war, fühlte er ihm weder den Puls, noch griff er ihm an die Brust … Er wollte sein Gesicht sehen …
Um sich zu vergewissern, dass er den Richtigen umgebracht hatte? … Da konnte irgendetwas nicht stimmen: Warum hatte er noch dreimal auf den am Boden Liegenden eingestochen? …
Es war ein Film, den Maigret ein ums andere Mal in seinem Kopf ablaufen ließ, als verspräche er sich davon eine plötzliche Eingebung.
»Place de la Bastille«, sagte er zum Taxifahrer.
Der Inhaber des ›Café des Amis‹ saß noch an seiner Kasse, die Haare sorgsam über die Stirnglatze gekämmt. Ihre Blicke begegneten sich; aus den Augen des Wirts sprach alles andere als Liebenswürdigkeit. Statt sich im Erdgeschoss hinzusetzen, ging Maigret ins Souterrain hinunter und nahm dort an einem der Tischchen Platz. Es war die Aperitifzeit, und es waren wesentlich mehr Gäste da als am Vormittag. Als der
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