Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
…«
Maigrets Blick glitt über die Wände, an die Nacktfotos aus einem amerikanischen Magazin geheftet waren.
»Auch das ist sehr unreif«, erklärte sie. »Ich bin überzeugt, dass mein Bruder nie mit einem Mädchen geschlafen hat … Zwei- oder dreimal hat er Freundinnen von mir den Hof gemacht, aber sehr weit ist das nie gediehen.«
»Hatte er ein Auto?«
»Zu seinem zwanzigsten Geburtstag haben ihm meine Eltern einen englischen Kleinwagen geschenkt. Zwei Monate lang hat er seine ganze Freizeit auf dem Land verbracht und allen erdenklichen Schnickschnack in das Auto eingebaut … Dann hat es ihn nicht mehr interessiert, und er ist nur noch damit gefahren, wenn er es wirklich gebraucht hat.«
»Für seine nächtlichen Streifzüge zum Beispiel?«
»Nie … Ich gehe jetzt Mama fragen, ob ich Ihnen die Kassetten mitgeben darf … Hoffentlich ist sie auf …«
Es war halb elf. Das Mädchen blieb eine ganze Weile weg.
»Sie vertraut Ihnen«, berichtete sie. »Das Einzige, was Sie von Ihnen erwartet, ist, dass Sie den Mörder verhaften. Mein Vater ist, nebenbei gesagt, noch tiefer erschüttert als sie. Es war sein einziger Sohn. Seit es passiert ist, spricht er nicht mehr mit uns, und er fährt jeden Tag schon früh ins Büro … Wie sollen wir das Zeug verpacken? Wir brauchten einen Koffer oder einen großen Karton … Ein Koffer wäre besser … Warten Sie, ich weiß, wo ich was Geeignetes finde.«
Der Koffer, den sie wenig später brachte, trug das Kronen-Emblem des Lederwarengeschäfts in der Rue Royale.
»Kennen Sie Philippe Lherbier?«
»Meine Eltern kennen ihn. Sie waren ein paarmal bei ihm zum Abendessen eingeladen, aber eigentlich befreundet sind sie nicht mit ihm … Das ist doch der Mann, der sich ständig scheiden lässt, oder nicht?«
»Sein Landhaus wäre letzte Nacht beinahe ausgeräumt worden … Hören Sie nie Radio?«
»Nur am Strand, wenn Musik kommt.«
Sie half ihm, die Kassetten im Koffer zu verstauen; obendrauf legte sie das Heft mit dem Verzeichnis.
»Haben Sie keine Fragen mehr? Sie können jederzeit kommen, wenn Sie noch Fragen haben, und ich verspreche Ihnen, dass ich genauso ehrlich antworten werde wie bisher.«
Sie fand es offenbar aufregend, der Polizei zu helfen.
»Ich begleite Sie nicht zur Tür, in diesem Aufzug kann ich schließlich nicht am Totenzimmer vorbeigehen. Die Leute würden es als Respektlosigkeit auffassen … Warum muss man einem Menschen gegenüber plötzlich die Formen wahren, nur weil er gestorben ist, und vorher hat man ihn wie den letzten Dreck behandelt?«
Etwas verlegen wegen seines Koffers durchquerte Maigret die Wohnung. Draußen vor dem Haus sah er zum Glück gerade eine Frau aus einem Taxi aussteigen und bezahlen, so dass er nicht warten musste.
»Quai des Orfèvres …«
Er überlegte, wem er Antoine Batilles Tonbänder geben könnte. Es musste jemand sein, der die Orte gut kannte, an denen die Aufnahmen gemacht worden waren, und der mit den dort verkehrenden Menschen vertraut war.
Schließlich ging er ins hinterste Büro des Gangs, zu seinem Kollegen von der Sitte.
Als er mit seinem Koffer in der Hand eintrat, witzelte dieser:
»Ziehen Sie um? Wollen Sie sich von mir verabschieden?«
»Ich habe hier Tonbandaufnahmen, die hauptsächlich in den äußeren Stadtbezirken und in den Vororten gemacht wurden, in Tanzclubs, Bistros, Bars …«
»Ist es für mich von Interesse?«
»Für Sie vielleicht nicht, für mich hingegen schon, vielleicht hat es mit dem Fall zu tun, in dem ich zurzeit ermittle.«
»Der Mord in der Rue Popincourt?«
»Unter uns gesagt, ja. Aber mir wäre lieber, wenn es nicht bekannt würde. Bei Ihren Leuten ist doch sicher jemand, der dieses Milieu gut kennt und der aus den Aufnahmen etwas herausholen kann …«
»Ich verstehe … Jemand mit einem Riecher für zwielichtige Gestalten zum Beispiel … Ein Bursche, der aus Angst, bloßgestellt zu werden …«
»Ganz genau.«
»Der alte Mangeot. Hat fast vierzig Jahre Berufserfahrung. Er kennt das bunte Völkchen an solchen Orten besser als jeder andere.«
Für Maigret war er kein Unbekannter.
»Hat er Zeit?«
»Ich werde dafür sorgen, dass er Zeit hat.«
»Kennt er sich mit diesen Dingern aus? Ich gehe schnell in mein Büro und hole den Kassettenrecorder.«
Als er zurückkam, stand ein Mann mit stumpfem Blick und erschlafften, traurigen Gesichtszügen im Büro des Chefs der Sitte.
Mangeot war einer dieser Hilfsangestellten, die nie eine richtige Ausbildung genossen
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