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Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher

Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher

Titel: Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Sonnenlicht erhielt. Die skandinavischen Möbel waren schlicht, aber geschmackvoll. An einer Wand war ein Regal, in dem lauter Bücher, Schallplatten und, auf die Länge von zwei Brettern, Kassetten standen.
    Auf dem Schreibtisch lagen Bücher, Hefte, Farbstifte, und in einer Glasschale mit zwei Zentimetern Wasser schwammen winzige Schildkröten.
    »War Ihr Bruder ein Tierfreund?«
    »In der letzten Zeit weniger … Früher hat er noch alle möglichen Viecher nach Hause gebracht, einen Raben mit einem gebrochenen Flügel zum Beispiel, einen Hamster, weiße Mäuse, einmal eine Ringelnatter. Er behauptete, er würde sie zähmen, aber er hat es nie geschafft …«
    In einer Ecke stand ein riesiger Globus mit Fuß, auf einem Beistelltisch lag eine Querflöte samt Noten.
    »Hat er Flöte gespielt?«
    »Er hat fünf oder sechs Stunden genommen … Irgendwo muss auch eine elektrische Gitarre herumliegen … Klavierstunden hat er auch genommen.«
    Maigret lächelte.
    »Nicht lange, wahrscheinlich?«
    »Er blieb nie lange bei etwas.«
    »Außer bei den Tonbandaufnahmen …«
    »Ja, das stimmt. Diese Begeisterung hat fast ein Jahr angehalten.«
    »Wusste er, was er später machen wollte?«
    »Nein … Oder er hat es niemandem gesagt. Papa hätte gerne gehabt, dass er ein naturwissenschaftliches Fach studiert, möglichst Chemie, damit er später die Firma übernehmen könnte.«
    »Aber er wollte nicht?«
    »Er hasste alles, was nach Geschäft aussah … Er hat sich geschämt, der Sohn des Mylène-Inhabers zu sein.«
    »Und Sie?«
    »Mir macht das nichts aus …«
    Es war gemütlich in diesem Zimmer mit den tausenderlei Gegenständen. Man spürte, dass sie jemandem vertraut gewesen waren. Dieser Jemand hatte viel Zeit in dem Zimmer verbracht und hier sein Reich gehabt.
    Maigret zog wahllos eine Kassette aus dem Regal, doch auf der Hülle stand lediglich eine Nummer.
    »Das Heft mit dem Verzeichnis muss hier sein«, sagte Minou.
    »Warten Sie …«
    Sie öffnete und schloss Schubladen, die meisten waren voll; manche Dinge, manche Papiere mussten noch aus der ersten Zeit am Gymnasium stammen.
    »Da … Es ist sicher auf dem neuesten Stand, er hat es sehr gewissenhaft geführt.«
    Es war ein gewöhnliches Schulheft mit karierten Seiten. Auf den Umschlag hatte Antoine mit mehrfarbigen Schnörkelbuchstaben geschrieben:
     
    Meine Erfahrungen
     
    Es begann mit:
    Kassette 1: Die Familie, am Sonntag beim Mittagessen.
    »Warum am Sonntag?«, fragte Maigret.
    »Weil mein Vater während der Woche selten zum Mittagessen nach Hause kommt. Und abends essen meine Eltern oft auswärts, oder sie haben Gäste.«
    So hatte er immerhin seine erste Aufnahme der Familie gewidmet.
    Kassette 2: Südautobahn an einem Samstagabend.
    Kassette 3: Wald von Fontainebleau, nachts.
    Kassette 4: Metro, 8 Uhr abends.
    Kassette 5: Mittags an der Place de l’Opéra.
    Es folgten: Pause im Théâtre du Gymnase; Schnellimbiss in der Rue de Ponthieu; Drugstore an den Champs-Elysées.
    Kassette 10: Bistro in Puteaux.
    Seine Neugier dehnte sich aus und führte ihn unmerklich in andere Bevölkerungsschichten: Vor einer Fabrik bei Arbeitsschluss; Tanz in der Rue de Lappe; Bistro in der Rue des Gravilliers beim Canal Saint-Martin; Blumenball in La Villette; Bistro in Saint-Denis.
    Sein Interesse galt nicht mehr dem Stadtzentrum, sondern den Außenbezirken und Vororten; eine Adresse befand sich am Rand eines Elendsviertels.
    »Stimmt es, dass es gefährlich war?«
    »Mehr oder weniger … Ratsam war es vielleicht nicht, und er tat gut daran, Sie nicht mitzunehmen … Die Leute, die an solchen Orten verkehren, mögen es nicht, wenn man ihnen hinterherschnüffelt, und dazu noch mit einem Tonband.«
    »Glauben Sie, dass er deswegen …«
    »Ich weiß es nicht … Ich bezweifle es eher … Um irgendwelche Behauptungen aufstellen zu können, müsste ich mir alle seine Bänder anhören. Und das würde, wie es aussieht, Stunden, wenn nicht Tage dauern.«
    »Wollen Sie es nicht tun?«
    »Wenn ich sie vorübergehend mitnehmen könnte, würde ich einen meiner Inspektoren beauftragen …«
    »Das möchte ich lieber nicht entscheiden. Seit er nicht mehr lebt, ist mein Bruder zum Heiligen geworden, und alles, was ihm gehört hat, bekommt auf einmal einen ganz anderen Stellenwert, verstehen Sie? Vorher hat man ihn mehr oder weniger wie ein großes Kind behandelt, was ihn übrigens zur Weißglut gebracht hat … In gewisser Hinsicht ist er allerdings auch sehr kindlich gewesen

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