Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
lauten.«
Die Antwort erfolgte fünf Minuten später.
»Seit mindestens zehn Tagen …«
Darauf ließ er sich die Pension geben, wo der Tscheche sich eingemietet hatte.
»Seit ungefähr einer Woche«, antwortete man ihm dort auf die gleiche Frage.
Mit der freien Hand zog er ein Telefonbuch heran, sah die Liste der Postämter durch und ließ sich mit dem Amt am Boulevard Raspail verbinden.
»Gibt es unter den Leuten, die bei Ihnen regelmäßig ihre postlagernden Briefe abholen, einen gewissen Radek? … Nein? … Meines Wissens benutzt er Initialen als Anschrift … Hier spricht die Polizei … Hören Sie, Mademoiselle … Der Mann ist Ausländer, ziemlich schäbig gekleidet. Er hat rotes Haar, sehr lang und kraus … Wie bitte? … Die Initialen M. V.? … Wann ist der letzte Brief für ihn angekommen? … Ja, fragen Sie, ich warte solange … Bitte nicht unterbrechen …«
Es wurde an seine Tür geklopft.
»Herein!« rief er, ohne sich umzudrehen.
»Hallo, ja? … Wie? … Gestern morgen um zirka neun Uhr? … Und der Brief kam mit der Post? … Danke … Verzeihung, noch etwas … Er war ziemlich dick, nicht wahr, wie wenn er Geld enthielte …«
»Nicht schlecht!« ertönte eine Stimme hinter Maigret.
Er drehte sich um. Vor ihm stand der Tscheche, er sah mitgenommen aus, aber in seinen Augen glühte ein kaum wahrnehmbarer Funke. Er setzte sich, während er weitersprach:
»Das war allerdings kindisch von mir … Jetzt wissen Sie also, daß ich gestern auf dem Postamt am Boulevard Raspail Geld in Empfang genommen habe. Dieses Geld befand sich am Abend zuvor in der Tasche des armen Crosby. Aber hat Crosby es selbst geschickt? Das ist die entscheidende Frage …«
»Hat der Bürodiener Sie denn vorbeigelassen?«
»Er war mit einer Dame beschäftigt. Ich tat, als gehörte ich zur Firma, und dann sah ich Ihr Schildchen an einer Tür … So einfach war das! Und das in den Büros der hohen Polizei!«
Maigret fiel auf, wie erschöpft er aussah, nicht wie ein Mann, der eine schlaflose Nacht hinter sich hat, eher wie ein Kranker nach einem Anfall. Er hatte Ringe unter den Augen. Seine Lippen waren blutleer.
»Haben Sie mir etwas zu sagen?«
»Ich weiß nicht … In erster Linie wollte ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen. Sind Sie letzte Nacht gut nach Hause gekommen?«
»Danke.«
Von seinem Platz aus konnte Radek das Memorandum sehen, das der Kommissar verfaßt hatte, um seine Gedanken zu ordnen, und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Ist Ihnen der Fall Taylor ein Begriff?« fragte er unvermittelt. »Aber wahrscheinlich lesen Sie keine amerikanischen Zeitungen … Der berühmte Hollywood-Regisseur Desmond Taylor wurde 1922 ermordet. Ein gutes Dutzend Filmstars, darunter mehrere schöne Frauen, wurden der Tat verdächtigt – und allesamt wieder auf freien Fuß gesetzt … Und wissen Sie, was man heute, nach so vielen Jahren, in der Zeitung lesen kann? … Ich zitiere aus dem Gedächtnis, und ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis:
›Von Beginn ihrer Ermittlungen an hat die Polizei gewußt, wer Taylor ermordet hat. Aber die Beweise, über die sie verfügt, sind so unvollständig und so wenig stichhaltig, daß der Täter, auch wenn er sich freiwillig stellte, gezwungen wäre, glaubwürdige Beweise und Zeugen beizubringen, um sein eigenes Geständnis zu untermauern.‹«
Verwundert betrachtete Maigret sein Gegenüber. Der Tscheche legte die Beine übereinander, zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort:
»Wohlbemerkt, es war der Polizeichef persönlich, der das sagte … Vor ungefähr einem Jahr … Ich erinnere mich wörtlich … Und Taylors Mörder ist natürlich nie verhaftet worden. «
Der Kommissar lehnte sich scheinbar gelangweilt zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und wartete mit der ausdrucklosen Miene eines Mannes, der zwar Zeit hat, aber nicht sehr interessiert zuhört.
»Haben Sie sich übrigens endlich entschlossen, sich über William Crosby zu erkundigen? … Damals nach dem Mord hat die Polizei entweder nicht daran gedacht oder es nicht gewagt –«
»Haben Sie mir denn irgendwelche Informationen anzubieten?« Maigret bewegte kaum die Lippen.
»Wenn Sie wollen! In Montparnasse könnte Ihnen jedermann Auskunft geben … Zum ersten hatte er beim Tod seiner Tante über sechshunderttausend Franc Schulden. Sogar Bob vom ›Coupole‹ lieh ihm Geld. In reichen Familien ist es ja oft so. Er war Hendersons Neffe und selber doch nie wirklich reich. Ein
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