Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
im Krieg gefallen. Die Mutter wird wohl immer noch Fisch auf den Straßen verkaufen und vor allem in den Bistros ihrem Rotwein huldigen.«
Zum zweitenmal mußte Maigret seltsam lächeln, als er an Julie dachte. Er sah sie wieder vor sich, wie sie in Paris in seinem Büro erschienen war, sehr adrett in ihrem blauen Kostüm, ein bißchen eigenwillig in ihrer Art.
Dann der heutige Vormittag, als sie so ungeschickt wie ein kleines Mädchen darum kämpfte, ihm bloß nicht den Zettel ihres Bruders aushändigen zu müssen.
Joris’ Haus verschwamm bereits im Nebel. Im ersten Stock, wo der Leichnam gelegen hatte, war es dunkel, ebenso im Eßzimmer. Nur im Korridor brannte Licht und wahrscheinlich auch hinten in der Küche, wo die beiden Nachbarinnen dem Mädchen Gesellschaft leisteten.
Jetzt kamen auch die Schleusenarbeiter in die Kneipe, aber sie setzten sich taktvoll an einen Tisch im Hintergrund, wo sie ihr Dominospiel begannen. Der Leuchtturm wurde eingeschaltet.
»Bringen Sie uns dasselbe nochmal«, sagte der Hafenmeister auf die Gläser deutend. »Das ist meine Runde.«
Maigrets Stimme klang seltsam gedämpft, als er fragte:
»Wenn Joris noch lebte, wo wäre er jetzt? Hier?«
»Nein! Zu Hause! Mit Pantoffeln an den Füßen!«
»Im Eßzimmer? In seinem Schlafzimmer?«
»In der Küche! Um die Zeitung und danach ein Gartenbuch zu lesen. Er hatte plötzlich eine Leidenschaft für Blumen! Sie sehen’s doch, trotz der Jahreszeit ist sein Garten immer noch voll damit!«
Die anderen lachten, aber sie waren auch ein wenig beschämt, weil nicht die Blumen ihre Leidenschaft waren, sondern diese Kneipe, in der sie Abend für Abend hockten.
»Ging er auf die Jagd?«
»Selten. Ab und zu, wenn er eingeladen wurde.«
»Mit dem Bürgermeister?«
»Das ist vorgekommen. Wenn es Enten gab, gingen sie zusammen in die Jagdhütte.«
Die Kneipe war so trüb beleuchtet und so verqualmt, daß man die Dominospieler kaum sehen konnte. Ein großer Ofen verbreitete stickige Wärme. Und draußen war fast totale Finsternis, eine Finsternis, die im Nebel undurchdringlich, wie drohend schien. Maigrets Pfeife knisterte.
Und er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schloß halb die Augen und bemühte sich, das Wirrwarr von Einzelheiten, die als zusammenhanglose Masse in seinem Kopf herumschwirrte, zu ordnen.
»Joris ist sechs Wochen lang verschwunden gewesen und mit einem aufgeschlitzten und genähten Schädel zurückgekehrt«, sagte er, ohne zu merken, daß er laut dachte. »Am Tag seiner Heimkehr erwartete ihn das Gift.«
Und erst am darauffolgenden Tag hatte Julie die Warnung ihres Bruders im Wandschrank gefunden!
Maigret stieß einen tiefen Seufzer aus und murmelte, als käme er zu einem Schluß:
»Kurz und gut, man hat versucht, ihn zu töten. Dann hat man ihn geheilt. Dann hat man ihn endgültig umgebracht. Es sei denn …«
Denn diese drei Thesen paßten nicht zusammen. Und plötzlich kam ihm ein seltsamer Gedanke, so seltsam, daß er erschreckend war.
»Es sei denn, man habe ihn das erstemal gar nicht töten wollen, habe ihn lediglich um den Verstand bringen wollen!«
Hatten die Ärzte in Paris nicht bestätigt, die Operation könne nur von einem großen Chirurgen vorgenommen worden sein?
Aber schlägt man einem Menschen den Schädel ein, wenn man ihn um seinen Verstand bringen will?
Und dann! Was bewies, daß Joris tatsächlich den Verstand verloren hatte?
Maigret wurde unter respektvollem Schweigen beobachtet. Der Zöllner forderte die Kellnerin mit einer Geste auf, dasselbe nochmal zu bringen.
Und da saßen sie nun, im Warmen, jeder in sich versunken, vagen Träumereien nachhängend, die der Alkohol verzerrte.
Man hörte drei Autos vorbeifahren: Die Vertreter der Staatsanwaltschaft kehrten nach dem Empfang bei Monsieur und Madame Grandmaison nach Caen zurück. Zu dieser Stunde lag die Leiche des Kapitäns Joris bereits in einem Kühlfach im Gerichtsmedizinischen Institut.
Es wurde nichts mehr gesprochen. Die Schleusenarbeiter rückten die Dominosteine auf der abgewetzten Tischplatte hin und her. Man spürte, daß das Problem nach und nach alle bedrückte, daß es da war, fast greifbar in der Luft hing. Die Gesichter verfinsterten sich. Der jüngste der Zöllner stand mit nachdenklicher Miene auf und stammelte:
»Zeit, daß ich heimgehe zu meiner Frau.«
Maigret reichte seinen Tabaksbeutel an seinen Nachbarn, der sich eine Pfeife stopfte und den Tabak an den nächsten weitergab. Plötzlich sagte Delcourt
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