Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
laut:
»Wieviel schulde ich Ihnen, Marthe?«
Er war ebenfalls aufgestanden, um dieser bedrückten Stimmung, die aufgekommen war, zu entfliehen.
»Beide Runden? Neun fünfundsiebzig. Plus drei Francs zehn von gestern.«
Alle hatten sich erhoben. Durch die offene Tür drang feuchte Luft herein. Man schüttelte sich die Hände.
Draußen verschwand jeder in seiner Richtung im Nebel. Man hörte den Widerhall der Schritte, und über allem dröhnte das Heulen der Sirene.
Maigret blieb noch einen Augenblick stehen und lauschte all diesen Schritten, die sich ringsum entfernten. Schwere Schritte, zögernd erst, dann plötzlich hastig.
Da wurde ihm bewußt, ohne daß er erriet, wie es gekommen war: die Angst war geboren.
Alle, die da auf dem Heimweg waren, hatten Angst, Angst vor etwas, vor allem, vor einer unbestimmten Gefahr, vor einer plötzlichen Katastrophe, Angst vor der Dunkelheit und vor den Lichtern.
»Wenn noch etwas passierte?«
Maigret klopfte die Asche aus seiner Pfeife und knöpfte seinen Regenmantel zu.
4
Die ›Saint-Michel‹
S
chmeckt es Ihnen?« fragte der Wirt bei jedem Gang besorgt.
»Ja, ja!« antwortete Maigret, der eigentlich nicht so recht wußte, was er da aß.
Er saß allein im Speisesaal des Hotels, der für vierzig oder fünfzig Gedecke vorgesehen war. Ein Hotel für die Badegäste, die im Sommer nach Ouistreham kommen. Die Ausstattung wie in allen Strandhotels. Kleine Vasen auf den Tischen.
Es hatte keinerlei Beziehung zu dem Ouistreham, das den Kommissar interessierte und das er allmählich zu verstehen begann.
Das war auch der Grund für seine Zufriedenheit. Wovor ihm bei einer Untersuchung immer am meisten graute, waren die ersten Kontakte, bei denen man noch so unbeholfen und voll falscher Vorstellungen war.
Das Wort ›Ouistreham‹ zum Beispiel! In Paris hatte es ein Bild ohne Beziehung zur Wirklichkeit hervorgerufen; ein Hafen in der Art von Saint-Malo. Dann, am ersten Abend, sah Maigret einen düsteren Ort, der von unnahbaren und schweigsamen Menschen bewohnt war.
Doch jetzt hatte er Bekanntschaft geschlossen. Er fühlte sich daheim. Ouistreham war eben irgendein Dorf am Ende einer Straße, an der junge Bäume standen. Das einzige, was zählte, war der Hafen: eine Schleuse, ein Leuchtturm, Joris’ Haus, die Kneipe.
Und der Rhythmus dieses Hafens: zweimal täglich die Flut, die Fischer, die mit ihren Körben vorbeikamen, die Handvoll Männer, die sich um nichts anderes als um das Kommen und Gehen der Schiffe kümmerten.
Andere Worte hatten einen konkreteren Sinn: Kapitän, Frachter, Küstenschiff … All das sah er zirkulieren, und er verstand die Spielregeln.
Das Geheimnis war nicht gelüftet. Alles, was am Anfang unerklärlich war, blieb unerklärlich. Aber die Figuren standen wenigstens an ihrem Platz, jede in ihrer Atmosphäre, jede mit ihrem alltäglichen Tamtam.
»Werden Sie längere Zeit hierbleiben?« fragte der Wirt, der ihm persönlich den Kaffee servierte.
»Ich weiß es nicht.«
»Wenn das während der Saison passiert wäre, hätte es mir außerordentlich geschadet.«
Maigret unterschied jetzt zwischen genau vier Ouistreham: Ouistreham-Hafen, Ouistreham-Dorf, Ouistreham für feine Leute mit seinen wenigen Villen wie der des Bürgermeisters an der Hauptstraße, und schließlich Ouistreham-Seebad, das augenblicklich nicht existierte.
»Sie gehen aus?«
»Ich will noch einen Spaziergang machen, bevor ich schlafen gehe.«
Es war Flut. Draußen war es viel kälter als an den Tagen zuvor, weil sich der Nebel, ohne sich aufzulösen, in eisige Wassertropfen verwandelt hatte.
Alles war schwarz. Überall war geschlossen. Nur das verschwommene Licht des Leuchtturms war zu sehen. Oben auf der Schleuse hörte man Stimmen.
Ein kurzes Hupen. Ein grünes und ein rotes Licht näherten sich, eine Masse glitt dicht an der Mauer entlang.
Maigret wußte inzwischen über das Manöver Bescheid. Es war ein Dampfer, der vom Meer her kam. Ein Schatten würde hinspringen, die Leinen auffangen und sie um den ersten Poller schlingen. Dann würde der Kapitän von seiner Brücke herab den Befehl zum Rückwärtslaufen geben, um das Schiff zum Stillstand zu bringen.
Delcourt kam zu ihm heran, sah beunruhigt zu den Molen hinüber.
»Was gibt’s?«
»Ich weiß nicht …«
Er runzelte die Brauen, als wäre es durch reine Willenskraft möglich, in der absoluten Dunkelheit etwas zu erkennen. Schon wollten zwei der Männer das Schleusentor wieder schließen, als Delcourt ihnen
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