Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
Innern schien die Stille wieder eingekehrt. Eine Stille, die von Angst erfüllt war. Keine Schläge mehr. Keine Schritte mehr. Vielleicht, aber das war sehr unbestimmt, der pfeifende Atem eines Mannes, der am Ende seiner Kräfte ist.
Ein Zeichen von Lucas. Die Tür öffnete sich. Links aus dem Arbeitszimmer drang ein Lichtschein. Mit einer Spur von Verdruß zuckte Maigret die Schultern, denn er wußte, daß er seine Befugnisse überschritt. Er überschritt sie sogar gewaltig, und das auch noch bei einer bärbeißigen Amtsperson wie dem Bürgermeister von Ouistreham. Aber was half’s?
Im Korridor angekommen, vernahm er deutlich ein Atmen, aber nur das von einer Person. Nichts rührte sich. Lucas hatte die Hand am Revolver. Mit einem Schlag stieß Maigret die Tür auf.
Dann blieb er stehen, verlegen, fassungslos, wie er es selten gewesen war. Hatte er damit gerechnet, eine neue Tragödie zu entdecken?
Aber nichts dergleichen! Es war äußerst verwirrend. Da stand Monsieur Grandmaison, die Lippen aufgerissen, Kinn und Hausmantel blutverschmiert, das Haar zerzaust, mit der verstörten Miene eines Boxers, der sich nach einem K.o. wieder erhebt.
Er konnte übrigens kaum aufrecht stehen, stützte sich mit weit nach hinten gebeugtem Oberkörper an der Kante des Kamins ab, und es war ein Wunder, daß er nicht umkippte.
Zwei Schritte von ihm Grand-Louis, nonchalent, die immer noch geballten Fäuste voller Blut – dem Blut des Bürgermeisters!
Es war Grand-Louis’ Keuchen gewesen, das man im Korridor gehört hatte. Er war es, der völlig außer Atem war, weil er wie ein Wahnsinniger zugeschlagen hatte. Sein Atem roch nach Alkohol. Die Gläser auf dem Tisch waren umgestoßen.
Die Fassungslosigkeit der beiden Polizeibeamten war so groß, die Bestürzung auf der anderen Seite so total, daß erstmal eine lange Minute verstrich, ehe wieder gesprochen wurde.
Dann wischte sich Monsieur Grandmaison mit einem Zipfel seines Hausmantels die Lippen und das Kinn ab, richtete sich mühsam auf, stammelte:
»Was … was ist …?«
»Wollen Sie bitte entschuldigen«, begann Maigret höflich, »daß wir in Ihr Haus eingedrungen sind. Ich hatte Lärm gehört. Die Tür war nicht abgeschlossen …«
»Das ist nicht wahr!«
Und der Bürgermeister gewann mit diesen Worten seine Energie zurück.
»Jedenfalls bin ich froh, rechtzeitig gekommen zu sein, um Sie zu beschützen und …«
Ein Blick auf Grand-Louis, dem die Sache keineswegs peinlich schien und der jetzt sogar ein merkwürdiges Lächeln aufsetzte, als er sah, wie der Bürgermeister reagierte.
»Ich brauche keinen Schutz.«
»Immerhin hat dieser Mann Sie angegriffen.«
Vor dem Spiegel brachte Monsieur Grandmaison ein wenig Ordnung in sein Äußeres und wurde ärgerlich, weil er immer noch blutete. Und in diesem Augenblick spiegelte sich in seinem Gesicht ein außergewöhnlicher, verwirrender Kampf zwischen Kraft und Schwäche, Selbstvertrauen und Unsicherheit.
Sein Veilchenauge, die Quetschungen und die offenen Wunden nahmen seinem Gesicht das ein wenig Puppenhafte. Seine Augen schimmerten blaugrün.
Aber er gewann seine Kaltblütigkeit überraschend schnell zurück und bot den Polizisten schon wieder die Stirn, als er, an den Kamin gelehnt, schließlich sagte:
»Ich vermute, Sie haben die Tür aufgebrochen.«
»Verzeihen Sie! Wir wollten Ihnen zur Hilfe eilen.«
»Das stimmt nicht, schließlich wußten Sie nicht, ob ich in irgendeiner Gefahr schwebte! Dem war nicht so!«
Er sagte diese letzten Worte mit aller Bestimmtheit.
Maigrets Blick glitt an Grand-Louis’ furchterregender Gestalt prüfend von oben nach unten und von unten nach oben.
»Ich hoffe, daß Sie mir dennoch gestatten werden, diesen Herrn hier mitzunehmen.«
»Keinesfalls.«
»Er hat Sie geschlagen, und sogar auf eine ziemlich brutale Art!«
»Wir hatten eine Auseinandersetzung. Das geht nur mich etwas an!«
»Ich habe allen Grund anzunehmen, daß Sie heute morgen, als Sie ein bißchen schnell die Treppe runtergingen, auf ihn gestürzt sind.«
Grand-Louis’ Lächeln wäre ein Foto wert gewesen. Er triumphierte aufs Höchste. Er kam allmählich wieder zu Atem, aber er hatte nichts von dem verpaßt, was rings um ihn geschehen war. Und diese Szene schien ihn außerordentlich zu vergnügen. Er genoß sie regelrecht. Zweifellos kannte er, Grand-Louis, die Hintergründe!
»Ich habe Ihnen, Monsieur Maigret, vorhin erläutert, daß ich meinerseits Ermittlungen anstelle. Ich kümmere mich nicht um Ihre
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