Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
dagelassen, es zurück nach Ouistreham zu schicken und seinem Besitzer eine Entschädigung zu zahlen.«
»So so! Aber nun zur Sache: Norweger sind Sie jedenfalls nicht.«
Der Mann hatte weder den Akzent noch war er vom Äußeren her der Typ. Er war groß, gut gebaut und noch jung. Seine elegante Kleidung war ein bißchen zerknittert.
»Verzeihung! Ich bin nicht Norweger von Geburt, aber ich habe die norwegische Staatsangehörigkeit.«
»Und Sie wohnen in Bergen?«
»In Tromsö, auf den Lofoten.«
»Sind Sie Kaufmann?«
»Ich besitze eine Fabrik zur Verwertung von Fischabfällen.«
»Wie zum Beispiel Rogen?«
»Rogen und alles übrige. Aus den Köpfen und Lebern wird Öl hergestellt. Aus den Gräten Düngemittel …«
»Das ist perfekt! Perfekt! Perfekt! Bleibt nur noch die Frage, was Sie in der Nacht vom 16. auf den 17. September in Ouistreham gemacht haben!«
Der Mann zeigte keine Verlegenheit. Gemächlich sah er sich um und sagte:
»Ich war nicht in Ouistreham.«
»Wo waren Sie?«
»Und Sie?«
Er nahm sich zusammen, lächelte.
»Ich meine, wären Sie in der Lage, so mir nichts dir nichts zu sagen, was Sie an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit getan haben, und das nach über einem Monat?«
»Waren Sie in Norwegen?«
»Wahrscheinlich.«
»Hier, nehmen Sie!«
Und Maigret reichte ihm den goldenen Füllhalter, den der Norweger wie selbstverständlich und mit einem Dankeschön in seine Tasche steckte.
Ein gutaussehender Mann, weiß Gott! Im selben Alter und ebenso groß wie der Bürgermeister, aber schlanker und lebhafter. Seine dunklen Augen reflektierten Lebensfreude, und das Lächeln auf seinen dünnen Lippen verriet großes Selbstvertrauen.
Die Fragen des Kommissars beantwortete er höflich und zuvorkommend.
»Ich vermute, hier liegt ein Irrtum vor, und es wäre mir sehr recht, wenn ich meine Fahrt nach Paris fortsetzen dürfte …«
»Ich habe da noch eine Frage: Wo haben Sie Grand-Louis kennengelernt?«
Entgegen aller Erwartung Maigrets sah der Norweger nicht zu dem Matrosen hinüber.
»Grand-Louis?« wiederholte er.
»Haben Sie Joris während seiner Reisen als Kapitän kennengelernt?«
»Verzeihung … ich verstehe nicht …«
»Natürlich! Und wenn ich Sie frage, warum Sie lieber an Bord eines abgewrackten Schiffsbaggers als in einem Hotel schlafen, dann werden Sie mich mit großen Augen ansehen!«
»Das ist unglaublich! Sie müssen einsehen, daß Sie an meiner Stelle …«
»Sicher ist, daß Sie gestern mit der ›Saint-Michel‹ nach Ouistreham gekommen sind. Vor der Hafeneinfahrt sind Sie in das Beiboot des Schoners umgestiegen und damit an Land gefahren. Sie sind zu dem Schiffsbagger gegangen und haben dort die Nacht verbracht. Heute nachmittag sind Sie um die Villa, in der wir uns befinden, herumgeschlichen, haben sich dann ein Fahrrad geliehen und sind nach Caen gefahren. Sie haben ein Auto gekauft, sind nach Paris gestartet. Wollten Sie sich mit Madame Grandmaison im Hôtel Lutèce treffen? Wenn ja, dann können Sie sich jetzt die Fahrt sparen. Wenn ich mich nicht sehr täusche, wird sie noch heute nacht hier eintreffen.«
Schweigen. Der Bürgermeister hatte sich in eine Statue verwandelt, und sein Blick war so starr, daß man kein Leben mehr in ihm vermutete. Grand-Louis kratzte sich am Kopf und gähnte. Er war der einzige, der saß.
»Heißen Sie Martineau?«
»Jean Martineau, ja.«
»Nun, Monsieur Jean Martineau, überlegen Sie gut! Denken Sie nach, ob Sie mir wirklich nichts zu sagen haben. Es ist sehr gut möglich, daß eine der hier anwesenden Personen an einem der nächsten Tage vor das Schwurgericht gestellt wird.«
»Da ich Ihnen schon nichts zu sagen habe, will ich Sie wenigstens um die Erlaubnis bitten, meinen Konsul benachrichtigen zu dürfen, damit er alles Notwendige veranlaßt.«
Auch der noch! Monsieur Grandmaison hatte mit Klage gedroht. Martineau wollte es ihm nachtun. Nur Grand-Louis drohte nicht damit, er fand sich philosophisch mit allem ab, wenn er nur etwas zu trinken hatte!
Draußen hörte man den Sturm heulen, der bei Hochflut seinen Höhepunkt erreichte.
Lucas’ Miene war vielsagend. Nichts ließ daran zweifeln, daß er dachte:
»Da sitzen wir ja ganz schön in der Tinte. Höchste Zeit, daß wir uns was einfallen lassen.«
Maigret ging auf und ab, zog wütend an seiner Pfeife.
»Kurz und gut, keiner, weder der eine noch der andere, weiß etwas über die Abenteuer und den Tod von Kapitän Joris.«
Zeichen des Verneinens.
Weitere Kostenlose Bücher