Maigret und der Spion
umwölkte, sah Jean Adèles Zimmer vor sich, das bei seinem Besuch ungemacht gewesen war, die Tänzerin, die sich auszog, den Spirituskocher anzündete …
»Haben Sie mir noch immer nichts zu sagen?« fragte ihn der Kommissar, ohne sich aus seinem Sessel zu rü h ren.
Er antwortete nicht. Er hatte nicht die Kraft dazu. Er begriff kaum, daß die Frage ihm galt.
Der Kommissar seufzte, sagte dann zum Inspektor:
»Du kannst gehen! Laß mir nur ein bißchen Tabak da.«
»Glauben Sie, Sie erreichen noch was?«
Und er nickte in Richtung der dunklen Umrisse des jungen Mannes, der zusammengesunken dahockte, den Oberkörper auf dem Tisch.
Erneutes Achselzucken.
Und ein großes Loch in Chabots Gedächtnis, ein schwarzes Loch voll wimmelnder dunkler Gestalten, mit roten Funken, die hindurchflogen, ohne etwas zu erhe l len.
Er richtete sich auf, als er ein hartnäckiges Klingeln vernahm. Er sah drei große fahle Fenster, gelbliche Lampen, den Kommissar, der sich die Augen rieb, m e chanisch nach der erloschenen Pfeife auf dem Tisch griff und mit steifen Beinen zum Telefon ging.
»Hallo! Ja! … Hallo! … Die Kriminalpolizei, ja! … Keineswegs. Alter … Er ist hier … Wie? … Doch, soll er ihn doch besuchen, wenn’s ihm Freude macht.«
Der Kommissar zündete sich mit trockenem Mund seine Pfeife an, nahm ein paar bittere Züge, baute sich vor Chabot auf.
»Das war wegen deinem Vater, der dich beim Ko m missariat des sechsten Bezirks als vermißt gemeldet hat. Ich glaube, er kommt bald.«
Sonnenstrahlen brachen plötzlich hinter einem der Nachbardächer hervor und tauchten die Scheiben in flammendes Licht, während Hausdiener mit Eimer und Bürste kamen, um die Amtsräume zu säubern.
Diffuse Geräusche drangen vom Markt herüber, der zweihundert Meter weiter gegenüber dem Rathaus stat t fand. Die ersten Straßenbahnen verkehrten, bimmelnd, als sei es ihre Aufgabe, die Stadt zu wecken.
Jean Chabot fuhr sich verstörten Blicks langsam mit der Hand durchs Haar.
5
Die Konfrontation
Das rasselnde Atmen verstummte in dem Moment, in dem Delfosse die Augen aufschlug, und sogleich setzte er sich auf, schaute sich ängstlich um.
Die Vorhänge waren nicht zugezogen worden, und die Glühbirne an der Decke brannte noch, vermischte ihren gelben Schein mit dem Tageslicht. Von der Straße drangen die Geräusche geschäftigen Stadtlebens herauf.
Von viel näher kamen gleichmäßige Atemzüge. Es war Adèle, die, bloß halb entkleidet, bäuchlings dalag, den Kopf im Kissen vergraben. Feuchte Wärme ging von ihrem Körper aus. Ein Fuß steckte noch im Schuh, und der hohe Absatz bohrte sich in die goldfarbene Se i de der Steppdecke.
René Delfosse fühlte sich schlecht. Seine Krawatte würgte ihn. Er stand auf, um Wasser zu suchen, fand welches in einer Karaffe, ein Glas jedoch nicht. So trank er gierig die laue Flüssigkeit aus dem Krug, betrachtete sich im Spiegel über dem Waschtisch.
Sein Gehirn arbeitete langsam. Die Erinnerungen stellten sich nur nach und nach ein, und lückenhaft. Zum Beispiel erinnerte er sich nicht, wie er in dieses Zimmer gelangt war. Er sah auf seine Uhr. Sie war st e hengeblieben, doch die Geschäftigkeit draußen ließ darauf schließen, daß es mindestens neun Uhr war. Eine Bank im Haus gegenüber hatte bereits geöffnet.
»Adèle!« rief er, um nicht mehr allein zu sein.
Sie regte sich, drehte sich mit angezogenen Beinen auf die Seite, wachte aber nicht auf.
»Adèle! … Ich muß mit dir reden … «
Er betrachtete sie ohne Verlangen. Im Augenblick ekelte ihn möglicherweise das weiße Fleisch der Frau s o gar ein bißchen an.
Sie öffnete ein Auge, zuckte die Achseln, schlief wi e der ein. Je klarer er zu denken vermochte, desto nervöser wurde Delfosse. Die unruhig umherschweifenden Augen kamen nirgends zur Ruhe. Er ging zum Fenster und e r kannte auf dem gegenüberliegenden Gehsteig den Pol i zeiinspektor, der dort hin und her ging, ohne die Hau s tür aus den Augen zu lassen.
»Adèle! … Um Himmels Willen, wach auf! … «
Er hatte Angst! Gräßliche Angst! Er hob seine Jacke auf, die auf dem Boden lag, tastete, nachdem er sie a n gezogen hatte, automatisch die Taschen ab. Sie enthie l ten keinen Centime!
Er trank abermals, und das Wasser sank schwer und schal in seinen verstimmten Magen. Einen Augenblick meinte er, er müßte sich übergeben und würde dadurch Erleichterung finden, doch es gelang nicht.
Die Tänzerin schlief noch immer, mit wirren Haaren und
Weitere Kostenlose Bücher